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Nicht also nur die Frauen befriedigen sich sexuell selbst, sondern auch – in mindestens gleichwertig ebenbürtiger Weise – die Männer. Spätestens vierzehnjährige Mädchen und Jungen sind ja schon völlig geschlechtsreif; und ist man schon geschlechtsreif, hat man per Definition natürlich auch schon den entsprechenden Geschlechtstrieb und will Sex zusammen haben, – andernfalls man ja gar nicht erst hätte geschlechtsreif zu werden brauchen.
Die evolutionäre Natur hat es seit Jahrmillionen von sich aus so eingerichtet. Wäre die Evolution auf etwas anderes aus gewesen als den Geschlechtsverkehr mit vierzehn, dann hätte sie es ja erst gar nicht so einzurichten brauchen oder hätte es anders eingerichtet! Man würde dann eben erst in späteren Jahren geschlechtsreif; oder man würde geschlechtsreif, ohne zugleich auch das Bedürfnis nach geschlechtlicher Befriedigung zu haben – was allerdings wieder ein Widerspruch in sich scheint. So ist es aber nicht. Denn reif für die Geschlechtslust, ohne zugleich auch das Verlangen danach zu haben – wie soll das überhaupt gehen?
Mit einem Wort, es ist ein schreiender Gegensatz und Aberwitz! Ein Widerspruch und Riss in der Natur! Ein klaffender Abgrund tut sich auf zwischen unserer menschlichen Natur zum einen, und unserer – wie es nennen? – Kultur zum andern. Nature and nurture, alliterativ auf Englisch: Was die Natur verlangt, wird von der Kultur versagt, verweigert, boykottiert, hintertrieben. So wie es de facto läuft, bleibt den jungen Leuten praktisch ja gar nichts anderes übrig, als abzuwarten und ihren Geschlechtstrieb so lange zu unterdrücken und repressiv hintanzuhalten, bis er die Zügel frei und Carte blanche bekommt. Repression ist aber nur ein anderes Wort für Unterdrückung.
Ist aber ein Verlangen, das einem so auf den Nägeln brennt, überhaupt so zu unterdrücken und unter Kuratel zu halten? Man hat sein Geschlechtsleben vorderhand zu verleugnen, künstlich auszublenden und so zu tun, als wäre es gar nicht vorhanden, oder sich irgendwie sonst zu behelfen.
Auf welche Weise aber sollte man sich da sonst behelfen?
Doch nicht anders, als dass man, wenn einem die Natur kommt, selbst Hand an sich legt und sich sexuell selbst befriedigt! Sogar eine eingeschworene Katholikin hörten wir einmal schwäbeln: „Was kannsch mache, wenn d'Natur schaffet?“
Laut der ,Anthropologie' des Philosophen Immanuel Kant von 1798 bestehe, wie der Verfasser da schlüssig schreibt, die erste physische Bestimmung unserer menschlichen Sexualität in ,dem Antrieb des Menschen zur Erhaltung seiner Gattung, als Tiergattung'. Also im Sexualtrieb: „Aber hier wollen nun schon die Naturepochen seiner Entwicklung mit den bürgerlichen nicht zusammentreffen. Nach der erstern ist er im Naturzustande wenigstens in seinem 15ten Lebensjahre durch den Geschlechtsinstinkt angetrieben und vermögend, seine Art zu erzeugen und zu erhalten. Nach der zweiten kann er es (im Durchschnitt) vor dem 20sten schwerlich wagen. Denn wenn der Jüngling gleich früh genug das Vermögen hat, seine und seines Weibes Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch noch lange nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und Kind zu erhalten. – Er muss ein Gewerbe erlernen, sich in Kundschaft bringen, um ein Hauswesen mit seinem Weibe anzufangen, worüber aber in der geschliffeneren Volksklasse auch wohl das 25. Jahr verfließen kann, ehe er zu seiner Bestimmung reif wird.
Womit füllt er nun diesen Zwischenraum einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Kaum anders als mit Lastern.“
Damit trifft der berühmte Denker den Nagel wohl auf den Kopf: Die menschliche Kultur geht mit der menschlichen Natur nicht konform. Die Intelligenz widerstreitet dem Instinkt, die Vernunft der Sinnlichkeit. Was diese fordert, wird von jener versagt, verweigert und vorenthalten. Was aber meint Kant mit ,Lastern'?
Da wird er nicht weiter explizit.
Ist es ein Laster, wenn man der ,abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit' nicht mit der nötigen Unterwürfigkeit nachkommt? Wenn die Natur nicht vor der Kultur zu Kreuze kriecht? Mit ,Laster' meint er vielleicht zuerst die instinktive Triebabfuhr in den sogenannten Freudenhäusern und Bordellen, wo man die körperliche Liebe käuflich erwerben kann. Dabei dürften die Mittel der bedürftigen Freier aber doch geradeso wenig wie dafür, Weib und Kind zu ernähren, auch für die käuflichen Frauen und Freudenmädchen reichen!
(„Was Deinen Abscheu vor jenen Damen angeht …“, schreibt der junge Gustave Flaubert den 18. März 1839 an Ernest Chevalier, „so überlasse ich Alfred die Aufgabe, sie logisch in eine philosophische … Liebe zu verwandeln. Ja und hunderttausendmal ja, ich habe eine Hure lieber als eine Grisette … Nein, ich habe viel lieber das Schändliche um des Schändlichen willen … Ich würde von ganzem Herzen eine in der Seele und bis in die Finger heiße und geile schöne Frau lieben.“ – „Studenten“, kommentiert dazu Sartre, „leben auf Kosten ihrer Familie, er weiß es. Aber er glaubt auch zu wissen, dass sie sehr kurz gehalten werden. Huren, das sind die Frauen, die er sich wird leisten können … Halten wir fest, dass er aufrichtig ist und dass er später seine Vorlieben behalten wird: allerdings müssen die Huren, die er liebt, teuer sein … Das Laster? Mit einer Prostituierten in ein Hotel gehen, hastig und jämmerlich ein Bedürfnis befriedigen, heißt das dem Laster frönen? In Wahrheit ist es das Bedürfnis, das ihn anwidert; dagegen würde er es nicht verachten, für ein sehr luxuriöses schönes Laster eine kostspielige Befriedigung zu suchen.“
Schon der junge Franz Kafka macht den Eltern altkluge Vorhaltungen, dass sie ihn in sexueller Unwissenheit gehalten und damit den größten Risiken ausgesetzt haben – wie man sie etwa in der Erzählung ,Der Heizer' würde nachlesen können, wo der 16-jährige Karl Roßmann von einer Dienstmagd praktisch vergewaltigt und zum Vater wider Willen gemacht wird. Daraufhin hat Vater Hermann bewährte Ratschläge zur Hand, wie man, nämlich im Bordell, ,ohne Gefahr diese Dinge betreiben' könne. So war der Alte, und wenn man es von der komischen Seite nahm, hat der junge Maulheld es vielleicht verdient, dass ihm bei dieser Antwort das Blut in den Kopf schießt. Aber auch noch mit 39 berichtet er dem Freund Max Brod, der sich darüber ,tief erschüttert' zeigt, von einem Bordellbesuch, ohne dort auch nur eine Spur der ersehnten Entspannung gefunden zu haben. „Qual der Geschlechtsorgane“, notiert Brod aufschlussreich über Franz' kryptisches ,G.' für ,Geschlecht'. So muss noch der 39-Jährige sich über das vermeintliche Tabu mystifizieren, um von der Familie nicht bei seinem sexuellen Elend ertappt zu werden. Wie wenn für ein aufgeklärtes Bewusstsein – spätestens in den Zeiten des Internetsex – daran noch etwas im Geringsten Beschämendes, Erschütterndes, zu Tabuisierendes sein könnte!)
Das besagte kantische Jahrzehnt einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit muss daher, da diese Abstinenz auf Dauer sowieso schwerlich ein- und auszuhalten ist – und auch gar nicht einsehbar ist, wieso sie überhaupt ein- oder ausgehalten werden sollte! –, zu einem anderen ebenso abgenötigten wie allgemein praktizierten ,Laster' führen: der sexuellen Selbstbefriedigung.
Auch in der Selbstbefriedigung also sieht der erklärte Aufklärer eine sittliche Verfehlung. Er moralisiert wie heute nur noch der römische Papst: Der natürliche Zweck des Sexualtriebs, dem nicht zuwider gehandelt werden dürfe, sei die Fortpflanzung der menschlichen Art. In seiner ,Metaphysik der Sitten' sieht er in der ,wollüstigen Selbstschändung' alias Selbstbefleckung eine Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, weil er seine eigene Persönlichkeit aufgebe, indem er sich selbst als reines Mittel zur Befriedigung seiner Triebe gebrauche. Das spricht wohl eher für ein idealistisch missratenes Menschenbild: wie wenn des Menschen Triebe nicht mit zur menschlichen Person gehörten. Besagte ,Selbstaufgabe' erfordere nicht einmal Mut, sondern nur ein Nachgeben gegenüber dem Trieb, und sei deshalb ein noch schlimmeres moralisches Vergehen als der Selbstmord.
Sind dies alles vielleicht nur bloße Lippenbekenntnisse des transzendentalen Idealismus? Gehört der moralisierende Immanuel wirklich zu jenen guten Predigern, die den eigenen Ratschlägen folgen? Wir wissen nicht und wollen auch gar nicht wissen, wie oft er selber Hand an sich legte.
Freud nannte es später Notonanie: soll heißen, diejenige Onanie, die aus der Not heraus kommt, dass der Einzelne noch keinen richtigen Sexualpartner hat. Ergo: „In der Pubertätszeit“, so Eduard Hitschmann, „scheint die Onanie nicht immer ganz vermeidbar, ja, für gewisse Veranlagungen als Notventil am Platze und in maßvoller, nicht von übertriebenen Schuldgefühlen beunruhigter Weise, als Provisorium betrieben, von relativem Vorteil zu sein, dem Betreffenden Geld, Gefahr der sexuellen Infektion, sowie das Aufsuchen schlechter Gesellschaft ersparend.“ Da hat die Aufklärung offenbar schon gewisse Fortschritte gemacht!
Meistens aber ist auch das noch zu kurz gegriffen. Scheint selbiges Provisorium sich zuweilen doch zu perpetuieren und weiter hinauszuziehen, wenn nachgerade nicht zu einem Dauerzustand werden zu wollen: „Es scheint ferner unzweifelhaft“, so Hitschmann, „dass vereinzelte Individuen durch die schwer realisierbare Art ihrer Phantasien oder durch äußere Umstände, wie Kontrolle, Geldmangel und ähnliches sich gezwungen sehen, die Masturbation weiter fortzusetzen.“ Manche vielleicht (wie oben gezeigt) ein Leben lang.
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