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Ein fundamentalistischer Roman des 21. Jahrhunderts?

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Steinfelds Kritik ist aber ziemlich anfechtbar. Er übergeht oder übersieht, ,Schoßgebete' ist ein typischer Roman der Liebe in den Zeiten des Internets, des Pornozeitalters und des Onlinesex, wo aber nicht der Sexus im klassischen Sinn als zwischengeschlechtlicher Akt im Mittelpunkt steht, sondern – in Form sexueller Selbstbefriedigung!

So haben wir eher den Eindruck, der Roman ,Schoßgebete' lebe nicht sowohl von derLüge, „dass die Sexualität irgendetwas retten könne“, als bemühe er sich vielmehr um eine Lösung des elementaren und alleraktuellsten Problems: Wie ist in der Zeit des Onlinesex die zwischenmenschliche Sexualität noch zu retten?

Ein Blick in die Statistik kann Steinfeld, sollte er's nicht schon wissen, belehren: der Onlinesex bildet inzwischen annähernd die Hälfte der milliardenfachen Internetzugriffe und -übergriffe. Käme es in einem der großen literarischen Werke des heutigen 21. Jahrhunderts zu besagtem Bericht von einem geselligen Abend, in dem die anwesenden Herren ihre sexuellen Bedürfnisse vergleichen, dann dürfte es sich vorwiegend, wenn nicht so gut wie ausschließlich um deren Befriedigung beim Onlinesex handeln – um die Frage also, wie oft pro Woche sie vor dem Internetbildschirm sitzen; denn die Zahl derjenigen, die es stattdessen noch immer zu den Frauen drängt, scheint stetig geringer zu werden.

Vermutlich aber käme es heute nicht mal mehr zu so einer vertrauten Runde, weil die betreffenden Herren sich jeder für sich genieren würden, das zuzugeben – der sex for one gilt immer noch als tabu und der Drang zum ,Weibe' immer noch als männlicher als der zum eigenen Pimmel; so gesehen ging, im westlichen Teil der Welt, diese ,Redefreiheit' im 21. Jahrhundert weitestgehend wieder verloren.

Doch geht das eben nicht sowohl darauf zurück, dass die Liebe „absolut, zum Fetisch, zum Gegenstand eines eigenen Fundamentalismus“ werde oder „in derselben Zeit zur größten aller Verheißungen geworden sei und im Beischlaf ihre höchste Erfüllung finden sollte“, – als vielmehr darauf, dass nicht die Liebe, sondern der Sexus mittlerweile noch mehr, als er es, zumal in Form der Selbstbefriedigung, immer schon war, zur größten Quelle der Lust avancierte. Als solcher findet er de facto in der Onanie vor dem Bildschirm die höchste Erfüllung – und wird dadurch zur Gefahr für die zwischengeschlechtliche Liebe. So Marie Schmidt: „Der Pornoclip ist der ideale Content für das Internet, und erst im Internet findet die Pornografie ganz zu sich selbst. Denn sie ist zur Masturbation gemacht, und es passiert jetzt inhaltlich nichts mehr, was davon ablenken würde.“ Aber machen wir uns nichts vor: Nicht nur, dass erst im Internet die Pornografie ganz zu sich selbst findet, scheint es auch der ,Porno', in dem der Sexus erst ganz zu sich selbst findet. Siehe wieder die Statistik! Und Elizabeth beim Koitus: „Muss seiner Selbstbefriedigung jetzt so nah wie möglich kommen“!

Gut möglich also, dass dem sexuellen Akt neuerdings eine Bedeutung zugeschrieben wird, „wie er sie nie zuvor besaß, eine Bedeutung, die viel größer ist, als sie dem Essen oder dem Wohnen oder sonst einer praktischen Beschäftigung je zugemessen wurde“; doch liegt das anscheinend nicht einfach daran, dass der Sex – in seiner zwischengeschlechtlichen Version! – zum „Fetisch, zum Gegenstand eines eigenen Fundamentalismus“ der Gesellschaft wird und, durch das Netz von der Unterdrückung, „so wie sie über die Jahrtausende hinweg betrieben wurde“, definitiv befreit, zu einer Ungehemmtheit und Intensität findet, wie es sie vorher jahrtausendelang nicht gab, – sondern vielmehr daran, dass die „Ungehemmtheit und Intensität, wie es sie vorher jahrtausendelang nicht gab“ erst in Gestalt also des autoerotischen, onanistischen, ipsistischen Onlinesex verwirklicht ist. Der eigentliche neue reaktivierte ,Fundamentalismus des Geschlechtslebens' ist im Grunde der Fundamentalismus des ipsistischen Onlinesex. Und wenn da wer dem Glauben an eine rettende Erfahrung huldigt, so nicht – oder nicht nur – Elizabeth Kiehl bei Charlotte Roche, als vielmehr zuerst und vor allem die Masse der Männer, die den Onlinesex im Internet dem realen vorziehen.

So beantwortet sich die Frage, „warum sich, in einer weitgehend libertären Gesellschaft, immer noch so viele Energien auf die Sexualität werfen können“, von selbst: weil diese Energien sich die ganze Natur- und Menschheitsgeschichte immer schon so und nicht anders darauf geworfen haben und werfen, – wobei sie sich jetzt nicht länger mehr so sehr auf den zwischengeschlechtlichen Sex, als vor allem auf den digitalen sex for one konzentrieren.

Das bedeutet aber nicht unbedingt auch schon, dass es „seit geraumer Zeit mit den Tadeln und Verboten ebenso vorbei“ sei „wie mit dem Bedürfnis nach noch mehr Aufklärung“, und „hierzulande, nichts mehr übrig, was aufgeklärt werden müsste“; denn für weithin tadelnswert und tabu gilt jetzt gerade der entfesselte Internetsex – was sich schon daran zeigt, dass er von Steinfeld gar nicht berührt wird –, und also ist es eben das, worüber mit Bestimmtheit aufzuklären wäre!

Insofern scheint das, was jetzt „immer wieder beschworen werden“ muss, „tausend und noch einmal hunderttausend Mal, auch wenn er so leicht zu haben ist, wenn sich nichts darin bestätigt und gar nichts daraus folgt“, nicht mehr der brave blanke Beischlaf, das ,alte Rein-Raus-Spiel' aus ,Uhrwerk Orange', – sondern vielmehr der einsam solipsistische, fallweise suchtartige Züge annehmende Hedonismus beim Onlinesex. Schreitet hier „eine methodisch operierende Sinnlichkeit voran, die sich fest verbunden glaubt mit dem Leben als solchem“, dann ist es de facto nicht der Koitus, sondern die autoerotische, narzisstische, ipsistische Lust!

Scheint es daher nicht wirklich so, als liege die – hier nicht weiter erklärte, wohl im Sinn möglichst intensiven Lebensgenusses gemeinte – ,Wahrheit' nicht zuletzt ausgerechnet zwischen den Beinen? Oder eben auch wesentlich mit zwischen den Beinen?

Warum dann sollte – oder müsste gar – automatisch auch ein Roman des 21. Jahrhunderts nicht fundamentalistisch davon handeln? Sprechen Roches ,Schoßgebete' nicht einfach nur laut aus, was alle sowieso ständig im Kopf haben?

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