Blog 141
Eben dieser Wahrheit stellt sich ungeschönt und ohne ein Blatt vor dem Mund Charlotte Roche, wenn sie ihre Protagonistin Elizabeth – „einzig beim Sex könne sie loslassen“ – die Libido, gerade im Dilemma zwischen Koitus und Onlinesex, in den Mittelpunkt ihres Lebensromans stellen lässt!
Tut sie damit was Unrechtes oder Unzeitgemäßes?
In keinster Weise; denn bei wem steht der Sex denn eigentlich nicht im Mittelpunkt, oder sagen wir, zumindest mit im Mittelpunkt?
Doch verheißt sie damit noch nicht eigentlich eine „rettende Erfahrung“, – im Gegenteil sucht sie nach der Lösung eines Konflikts von anthropologischem Ausmaß. Steinfeld unterschätzt womöglich einen allgemeingültigen kulturhistorischen Umstand, den Kritiker wie Karl Kraus, Karasek oder Stekel sehr wohl noch auf dem Schirm hatten: dass alles, was immer über den Sex verlautbart oder berichtet wird, nicht sowohl den realen zwischengeschlechtlichen Verkehr im Visier hat, als vielmehr allemal ein unterschwelliger Reflex der universellen sexuellen Selbstbefriedigung ist. Das, so scheint es, ist der eigentliche Fundamentalismus des Geschlechtslebens. Ist dieser sexuelle Fundamentalismus heute – woran wohl kaum mehr ein Zweifel besteht – der Ipsismus beim Onlinesex, dann ist Frau Roche – wie in den Zeiten des Internets nötiger denn je –ausgezogen, die – seelische und fleischlich-koitale – Liebe vor der alles verschlingenden Hydra digitaler Onanie zu retten: „Muss seiner Selbstbefriedigung jetzt so nah wie möglich kommen“!
Ich wüsste keinen anderen Autor, und auch keine andere Autorin, die das mit der gleichen Konsequenz unternommen hätten. Hoffen wir also, dass diesem bedrohlichen Monster nicht mit jedem abgeschlagenen Kopf alsgleich zwei neue nachwachsen und die Autorin zum Don Quijote des digitalen Zeitalters wird!
Offenbar nämlich stellt sie sich einer Problematik, vor der heutzutage jeder einigermaßen sinnliche Internetnutzer steht: der Diskrepanz zwischen dem Sex im Liebesakt und dem Sex in der Onanie!
Und wie diesem libidinösen Dilemma irgend beizukommen und gerecht zu werden wäre!
Es mag wohl ja auch heute noch durchaus so sein, dass einem Mann gleich dem aus der von Steinfeld zitierten klassischen Runde ein Beischlaf im Monat genügt – wir gratulieren ihm ehrlich dazu! –, – normal oder repräsentativ ist das in Anbetracht der milliardenfachen Mausklicks im Internet heute aber wohl kaum.
Zumindest ist es kein Thema für die Problematik der ,Schoßgebete', die ja nicht eben von toten Hosen, als vielmehr zugegebenermaßen von sinnlichen libidinösen Leuten handeln, – Personen, für die der Sex tatsächlich eine Bedeutung hat, die größer ist, als sie im vitalen Erleben des Subjekts dem Essen oder dem Wohnen oder sonst einer praktischen Beschäftigung je zugemessen wird. Und das gilt sicher nicht nur für den typischerweise so genannten phallischen Mann.
Und davon, dass dies nicht wenige sind – oder doch zumindest so viele, dass sich das kontroverse Thema lohnt –, kann Steinfeld sich wiederum leicht am Anteil sexueller Inhalte im Netz überzeugen. Allein dadurch scheint Roches Anliegen mehr denn berechtigt.
Können also in einer weitgehend libertären Gesellschaft „sich immer noch so viele Energien auf die Sexualität werfen“, so offenbar doch nur deswegen, weil der Sex diese Energien seit grauer Vorzeit realiter auch hat! Die Frage ist nur: welcher Sex? Der sex for two oder der sex for one? Das ist nicht dasselbe. Die Frage lautet, worauf diese Energien heute de facto geworfen werden: auf den zwischenmenschlichen Sex beim Koitus – oder auf den narzisstischen Sex in der Onanie?
Die Wahrheit des höheren Säugetiers Mensch liegt anscheinend tatsächlich, wie spätestens Freud erkannte, nicht zum wenigsten, ausgerechnet zwischen den Beinen, so dass Steinfelds Wort vom Fundamentalismus des Geschlechtslebens durchaus seine Berechtigung hat. Nur ist es anscheinend ein Fundamentalismus, der mehr auf dem ipsistischen Hedonismus des Einzelnen als dem zwischenmenschlichen Sex beruht: „Geh, wir haben grobe Sinne“, sagt Büchners Danton. „… Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nach einander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab, – wir sind sehr einsam.“ Diese Einsamkeit wird durch das Netz eigenartig relativiert.
Ein Fundamentalismus aber auch, der scheint's tatsächlich so recht erst in der ipsistischen Sphäre des Internetsex zu sich selber fand und damit auch das letzte Kapitel der ,sexuellen Revolutionen' ausmacht! Wir geben Steinfeld ganz Recht darin, dass es mit dem Bedürfnis nach noch mehr Aufklärung vorbei sei – „es ist, hierzulande, nichts mehr übrig, was aufgeklärt werden müsste“ (ungeachtet einmal der Aufklärung über den fortwesenden Schwindel der Religion!) –, – mit einer Ausnahme: eben der Aufklärung über den Antagonismus, akuter denn je, zwischen Eros und Liebe!
Warum also muss der Beischlaf „dennoch immer wieder beschworen werden, tausend und noch einmal hunderttausend Mal, auch wenn er so leicht zu haben ist“? So leicht aber ist er, wenn damit der reale Akt gemeint ist, gar nicht zu haben. Außerdem ist es die falsche Frage, da von Frau Roche primär gar nicht der Beischlaf ,beschworen' wird, sondern die sexuelle Lust, und das daraus resultierende Problem, wo und wie diese Lust am besten, und ob am besten wirklich beim intersexuellen Verkehr zu haben ist?
Offenbar ist ihre Protagonistin Elizabeth nicht dieser Meinung, sonst würde es nicht heißen: Muss seiner Selbstbefriedigung jetzt so nah wie möglich kommen! Das ist ihr Bezug auf den Porno. Elizabeth aka Charlotte erkennt, wie aus ihrer Bemerkung hervorgeht, scharfsinnig das Problem: dass sie beim Beischlaf mit Georg, oder irgend sonst einem Mann, mit dessen gewohnter Onanie konkurriert!
Ihre Bemerkung spricht dafür, dass die Lust eben dort: in der Selbstbefriedigung, am größten ist; – dass diese Lust im Geschlechtsakt aber niemals erreichbar ist; – und dass es daher nur darum gehen kann, ihr beim Beischlaf wenigstens so nahe wie möglich zu kommen. Der Satz enthält implizit die ganze Tragik der libidinösen Sinnlichkeit in der Welt! War das in über zweitausend Jahren Literaturgeschichte auch schon in irgendeinem anderen Werk in dieser Stringenz und Deutlichkeit zu lesen?
Offenbar nicht; viel eher war diese Literatur doch äonenlang von der „Unterdrückung der Sexualität, so wie sie über die Jahrtausende hinweg betrieben wurde“, von angestrengten Tabus und Heimlichtuereien geprägt und krampfhaft darum bemüht, diese Wahrheit nach Möglichkeit zu verdrängen, zu verschleiern, zu verleugnen: „Ich glaube, Doktor“, sagt Milady in ,Die Stadt Lucca' in Heines „Reisebildern, aus dem frühesten Weltalter ist uns nichts übriggeblieben als einige triste Formeln des Betrugs“. Klar erkennt die Autorin die Notwendigkeit der Aufklärung im Sex geradeso wie über die jahrtausendalte Lebenslüge der Religion.
Roches Buch ist daher weder unerheblich, noch trivial, noch verlogen. Etwas überanstrengt vielleicht. Es ist aber nichttrivial, extrem ehrlich und unbedingt nötig.
Jawohl, ihr Roman trägt nicht zufällig das Wort ,Gebete' im Titel. Nicht aber deswegen, weil es dem naiven Glauben an den Sex als ,eine rettende Erfahrung' huldigt (– „und weiß doch, dass es sie nicht gibt“! „Ich betrete keine Kirche“, erklärt die aufgeklärte Atheistin im hpd-Podcast, „ich bin so rigoros, dass ich nicht mitmache, wenn mich jemand auf eine Hochzeit einlädt, Beerdigungen, Taufen… Ich betrete nicht die Kirche, weil ich das Unsinn finde, da rein zu gehen, wenn man so was von nicht daran glaubt“ – auch diese Rechenschaft bleibt sie uns nicht schuldig!); sondern weil darin noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben ist – und buchstäblich darum ,gebetet' wird –, dass auch bei der Liebe in den Zeiten des Internets der zwischenmenschliche Sex noch eine Überlebenschance hat! (Und doch weiß, dass diese Chance für immer prekär bleiben muss?) Vielleicht ist es das, was ihre Millionen Leser ihr nachzufühlen wissen!
Während also etwa Frau Jelinek, die Nobelpreisträgerin, über die pervertierte Lust schreibt, schreibt Roche über die ganz normale, natürliche, alltägliche Lust. Gelingt es ihren Protagonisten wirklich, dies Amalgam der filmisch-digitalen mit ihrer gemeinsamen Lust?
Ich habe das Experiment nicht gemacht, kann nichts über den Ausgang sagen und muss es dem versierteren Leser selbst überlassen, davon zu berichten. Wäre das nicht die Versöhnung von Liebe und Eros, das letzte Kapitel von der Geschichte der Liebe?
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