Blog 124
„Es ist schöner, von Venedig zu träumen“ – sagt Marcel Proust –, „als in Venedig zu sein.“
„Ich sterbe, wie ich bin, ohne je der Stimme des Blutes gefolgt zu sein“, schreibt Hans Christian Andersen im Tagebuch. Jeden Tag, den er onaniert, kennzeichnet er mit einem Kreuzchen, so den Kreuzweg seines libidinösen Golgatha markierend.
„Alle Menschen onanieren“, konstatierte lapidar Wilhelm Stekel. „Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme.“
„Was für Verirrungen mit Mädchen trotz aller Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Grauhaarigkeit, Verzweiflung“, so Franz Kafka im Tagebuch am 2. Juni 1916. „Ich zähle: es sind seit dem Sommer mindestens sechs. Ich kann nicht widerstehn, es reißt mir förmlich die Zunge aus dem Mund, wenn ich nicht nachgebe, eine Bewunderungswürdige zu bewundern und bis zur Erschöpfung der Bewunderung zu lieben. Gegenüber allen sechs habe ich fast nur innerliche Schuld, eine aber ließ mir durch jemanden Vorwürfe machen.“ „Mädchen?“, fragt da sein Biograf Reiner Stach zu Recht. „Wo hätte Kafka Gelegenheit, sechs Mädchen kennenzulernen?“ – noch dazu solche, bei denen es ihm förmlich die Zunge aus dem Mund reißt? –, und verharrt „im Zwielicht einer Überlieferung, das allenfalls erahnen lässt, was vorgeht. Konturen, Schatten, stumme Gesten“.
Lion Feuchtwanger ist da ungleich expliziter, wenn er praktisch tagtäglich notiert: Dem Priapo geopfert oder Exzess in Priapo – womit er seine Ein-Mann-Masturbationsorgien meint.
„Drastischste (und betrüblichste? Der Teufel hol's!) Äußerung des seit der Europareise spürbaren Altersschubes“, so der 75-jährige Thomas Mann im Tagebuch vom 6./9. März 1951. „Da ich es ablehne, ohne Vollerektion zu masturbieren, scheint das Ende meines physischen sexuellen Lebens gekommen.“ Und den 23. Januar '54: „Schmerzliche sexuelle Anfechtung, die zu erdulden, da die Potenz endgültig hinter mir zu liegen scheint. Wer da meint, das meine den ,Frieden', ist sehr im Irrtum.“ Dagegen den 18. April wiederum: „Nachts Überfall bei starkem Vermögen und heftiger Lust. Was soll man machen?“ Und den 29. August: „Zur Nacht, nach einigem Schlaf, masturbiert und zweites Sekonal genommen.“ Warum sind unsere Klassiker immer nur in ihren noch unveröffentlichten Tagebüchern so ehrlich? Nobody is perfect.
„Zwischen Daumen und Zeigefinger“, so Becketts ,Molloy', „ist man sowieso besser dran.“
„Physics is to mathematics what sex is to masturbation.“ Oder anders herum: Mathematics is to Physics as masturbation to sex, sagt der geniale Physiker Richard Feynman.
Der Koitus hält nicht, was die Onanie verspricht! lästerte bekanntlich schon Karl Kraus.
Das plagiiert laut BZ Die Stimme Berlins im Netz vom 7. November 2000 auch als Karaseks Erkenntnis. Angesprochen ist der Literaturkritiker Hellmuth Karasek. Wie folgt.
Hellmuth Karasek, 66, und seine literarischen Gedanken zum Thema Sex und Pornografie. Im neuen „Penthouse“ lässt ihnen der Berliner Kult-Kritiker freien Lauf. Überschrift: „Karasex“.
Weitere Kostproben: „Der Beischlaf hält nie, was die Onanie verspricht. Phantasie ist immer besser. Die schönsten Erlebnisse, die ich kenne, sind erotische Erlebnisse. Aber auch die schrecklichsten.“
Karasex? Dieser Kalauer ist leicht verständlich. Sind nämlich die schönsten Erlebnisse, die Karasek kennt, erotische Erlebnisse, – hält aber der Beischlaf nie, was die Onanie verspricht, und ist „Phantasie immer besser“, – dann bedeutet dies doch nichts anderes, als dass seine schönsten erotischen Erlebnisse sich auch nicht dem Beischlaf, sondern vielmehr der Onanie verdanken! Er zieht, in anderen Worten, die Onanie dem Beischlaf vor; sein Sex in der Onanie ist immer besser als der reale Sex, und seine erotischen Erlebnisse sind im Wesentlichen ipsistische Erlebnisse.
In anderen Worten, der Interviewte ist ein bekennender Onanist. Er erinnert an Gottfried Benns ,Synthese': Auch was sich noch der Frau gewährt, / Ist dunkle süße Onanie. Wir sehen, es hat sich durch die Zeiten nichts geändert.
„Exclusiv: Karasex“, rodomontiert der Satiriker Eckhard Henscheid in der Zeit 45 vom 2. November 2000 „– der Wilde vom Literarischen Quartett, so tobt die Cover-Zeile auf dem Novemberheft des Schweineigeljournals Penthouse – und tatsächlich vermochte das zugehörige Interview außer mit dem Foto eines gefährlich phallisch Zigarren schmauchenden Hellmuth Karasek auch gleich noch mit einer erheblichen, ja wilden Äußerung über Erotik im Film aufzuwarten: An Pornos stört mich die Distanz. Ich habe nichts davon, wenn ich Kaviar im Schaufenster sehe und mir vorstelle, dass ihn ein anderer isst – aber was ist dieser ganze altbackene Metaphernkäse schon gegen die Erhabenheit des initialen Wortspiels: Karasex? Karasex: Nun mag zwar gemeiner Menschen- und zumal Frauenverstand Person und Aura und Entelechie des bekannten Spitzenkritikers mehr mit dem üppigen Ambiente eines wilden Puddings oder auch mit dem Karma eines irgendwie camembertartigen Calamares-Gerichts assoziieren – doch nein, auf Karasex gekommen zu sein: diese Sprachleistung wollen wir hier schallend preisen. Innerhalb der heute ohnehin schon fugenlos flammenden Wortspielhölle (Karl Kraus) und Doppelsinnpestilenz: dass da eine verzweifelte Redaktion noch im Hilfeschrei vom Horror Vacui auf diese geniale Lösung geraten ist, das hat übers Delirium tremens hinaus ein – schon selber richtiggehend Sexuelles, ja noch im Tintenfischsorbetabartigen beinahe Erotisches. Nicht Karamalz und nicht Karajanprosecco, nicht Hellmutterkuchen und nicht Dr. Kartoffelsäckchen und auch nicht Kara Ben Quadrupelbumms von und zu Kaviar sondern einfach: Karasex. Uns überläuft's. Chapeau!“
Seine schönsten erotischen Erlebnisse sind auch die schrecklichsten? Sind seine schönsten erotischen Erlebnisse aber ipsistischer Natur, dann sind die schrecklichsten auch die ipsistischen. Aber warum schrecklich? Weil sie nicht real sind? Oder hieße – nach Horatios Wort – es so zu betrachten, es allzu genau zu betrachten? Dann sollte der berufsmäßige Kritiker sich aber präziser ausdrücken.
Das Mitglied des „Literarischen Quartetts“, so BZ, (Quote sank im Oktober auf 3,1 Prozent Marktanteil – Vormonat 5,9 Prozent) gibt auch einen seiner (gemalten) Lieblingswitze zum Besten: „Ein Student steht in einer kärglichen Mansarde, in der einen Hand hat er eine Flasche Mineralwasser, mit der anderen Hand onaniert er. Und in der Sprechblase sagt er: „Was für ein Leben, Champagner und Weiber!“ Das ist die Kraft der Phantasie.“
Soll das das Selbstbild des Studenten Karasek sein? Phantasie ist immer besser, sagt er. Und an Selterswasser hat's auch noch nie gefehlt. Wir wissen leider nicht, was seine Frau Armgard Seegers, Kulturredakteurin beim Hamburger Abendblatt, zu seinem Interview sagte.
Jedennoch: „Was mich an Pornos stört“, doziert er, „ist die Distanz. Ich habe nichts davon, wenn ich Kaviar durch ein Fenster sehe und mir vorstelle, dass ihn jemand anderer isst!“ Übersieht er nicht, dass es ja gerade – im Unterschied zum physischen Kontakt – der ideelle visuelle Eindruck ist, der allein die Phantasie so zu beflügeln vermag?
Und dann verrät er noch seine Ansicht zu Porno-Kinos: „Ich habe mich spießig geekelt, in solche Kinos reinzugehen. Ich dachte, die Sitze sind klebrig. Das hat mich abgestoßen. Außerdem langweilen mich Pornofilme zu Tode.“ Das unterscheidet ihn offenbar sehr von Norman Mailer.
Damit erfahren, dass Karasek, was sein erotisches Erleben betrifft, am liebsten onaniert, – dabei aber nicht mit Hilfe der Pornos, den es auch zu seiner Zeit schon gab, sondern vorzüglich allein in seiner Phantasie. Das scheint wie gesagt aber paradox, ist der digitale Sex doch gerade so eine Prothese der menschlichen Libido wie die maschinelle Intelligenz eine Erweiterung der natürlichen. „Der Pornoclip ist“, so Marie Schmidt auf Zeit online vom 10. September 2014, „der ideale Content für das Internet, und erst im Internet findet die Pornografie ganz zu sich selbst. Denn sie ist zur Masturbation gemacht, und es passiert jetzt inhaltlich nichts mehr, was davon ablenken würde. Außerdem bringt das Internet den Porno dahin, wo Selbstbefriedigung stattfinden sollte: nach Hause.“
Findet aber erst im Internet der Porno ganz zu sich selbst, und findet die Selbstbefriedigung erst im Porno ganz zu sich selbst, – findet dann nicht auch der Karasex erst in im Porno ganz zu sich selbst? Liegt Karaseks Verweigerung daran, dass es in seiner Jugend noch kein Internet mit seinem Onlinesex gab, so dass er allein auf die Kinos verwiesen war? „Ich habe mich spießig geekelt, in solche Kinos reinzugehen. Ich dachte, die Sitze sind klebrig. Das hat mich abgestoßen.“ Dem war aber spätestens zur Zeit der Bänder und Videos leicht abzuhelfen, die man sich ja zu Hause reinziehen konnte.
Eine andere Frage wäre, wie Karasek, wenn er noch lebte, heute dem Onlinesex gegenüber stünde. Könnte er heutzutage doch ganz unverklebt vor dem heimischen Bildschirm sitzen.
Dennoch waren es nicht allein die schmuddeligen Kinos, die ihn abgeschreckt haben, sondern die Filme als solche: „Außerdem langweilen mich Pornofilme zu Tode.“
„Was mich an Pornos stört, ist die Distanz. Ich habe nichts davon, wenn ich Kaviar durch ein Fenster sehe und mir vorstelle, dass ihn jemand anderer isst!“: Da dürfte er unter den Milliarden hedonistischer Internetnutzer ziemlich allein dastehen, die, indem sie sich mental an die Stelle des anderen versetzen, den Kaviar in effigie essen. In effigie, da ja, wie Karasek explizit zugibt, von Venedig zu träumen schöner ist, als selber in Venedig zu sein! Pornokonsum bedeutet ja nicht, den Kaviar, den man durchs Fenster sieht, auch zu essen – das wäre ja wieder realer Sex, dem der Karasex ausdrücklich abschwört –, als vielmehr, ihn in effigie zu vernaschen.
Pornokonsum besteht, wie wir sahen, gerade darin, den naiven realen Sex dadurch zu ersetzen, dass das elektrochemische Feld der Lust im Gehirn – das Feld, in dem die sexuelle Erregung besteht! – so anzuregen und hedonistisch zu optimieren, wie es durch den realen Sex gerade nicht möglich ist, so dass der Einzelne sein erotisches Potenzial erst da völlig ausreizt. Das scheint gerade geeignet, die ipsistische Phantasie anzuregen – und das ist doch gerade im Sinne Karasekscher Konfession.
Wir haben beim Karasex also nachgerade das Beispiel einer anachronistischen Erotik, die zwar die modernsten Hilfsmittel zur Verfügung hat, sich aber weigert, davon Gebrauch zu machen.
Ist er ein lebendes Fossil des Ipsismus im Pornozeitalter? Der Literaturkritiker, schrieb Heinrich Heine, sei ein Eckensteher der Literatur. Ist der bekennende Onanist Karasek ein Eckensteher des Pornos? Eines aber müssen wir Karaseks Credo zugute halten: Es ist ziemlich ehrlich.
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