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Als der Novize des Porno der Siebzigerjahre das Kino verlässt, ist es ihm wie eine Epiphanie: eine revolutionäre sexuelle Erfahrung ohnegleichen, die sich gewaschen hat und den Begriff ,revolutionär' echt verdient. Denn was bedeutet diese radikale Befreiung des Sexualtriebs aus seiner bisherigen Gängelung und Verdrängung für die anthropologische Aufklärung der Moderne?
Was für Kunst und Kultur? Was für die erotische Literatur?
Indem der Porno und spätere Internetsex ausnahmslos alle sexuellen Varietäten zeigt, zeigt er auch offen alles, was bisher daran mystifiziert und tabuisiert worden war; und indem er alles zeigt, was bisher tabu war, fegt er zugleich auch alle scheinbaren und scheinheiligen Gründe hinweg, derentwegen er früher als Tabu abgestempelt ward und nicht offen gezeigt werden durfte.
Geradeso beseitigt das Internet auf einen Schlag alle Vorurteile, die früher der unverschleierten Erkenntnis und vorurteilslosen Einstellung gegenüber allem Sexuellen widerstanden. Es räumt mit allen bisherigen Verschleierungen, Unaufrichtigkeiten und Unwahrhaftigkeiten in puncto menschlicher Sexualität auf. Und also mit der Unwahrheit in puncto der Hälfte allen Menschseins überhaupt!
Auch persönlich stand der Novize sein bisheriges Leben lang unter dem zwanghaften Tabu des Sexus. Indem dieser als unveräußerliches Element des Menschlichen aber von der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen blieb, war er repressiv in den Bereich intim-unzugänglicher Privatheit verdrängt und auf bloße Phantasien verwiesen. Das Menschliche ist immer aber auch das Wahre; und menschenunwürdig ist nur Unwahrheit und mangelnde Aufklärung.
El sueño de la razón produce monstruos – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer – lautet eine berühmte Grafik Francisco Goyas. So produzierte der Dornröschenschlaf der Paragraphen des Sexualstrafrechts all die monströsen Schimären sexueller Phantasie!
Zuerst weckten die Tabus des zensierten Eros alle spekulativen Wunder und Weihen der erotischen Phantasie. Schuldete nicht auch die romantische Poesie sich wesentlich dem repressiven Charakter der Liebe sowie der Verdrängung des Triebs unter der gesellschaftlichen Unterdrückung? Erscheint die ganze Epoche der sogenannten Romantik nicht überhaupt nur als eine Zeit, da die Zeitgenossen nach einem Ventil für ihre unterdrückte Sinnlichkeit suchten? Abgeschnitten von der Realität, mussten sie der erotischen Repression einen unterschwelligen, indirekten, verklausulierten Ausdruck geben; jetzt, in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, sieht man den Sex erstmals eins-zu-eins befreit und ,entfesselt' auf der Leinwand und hat keinen Grund zur Mystifizierung mehr.
Indem der Pornofilm und spätere Onlinesex die menschliche Geschlechtlichkeit aus ihrer sterilen aseptischen Quarantäne befreit, entrückt er sie dem Ghetto romantischer Apartheid und in den Bereich nüchterner, und sei's wie immer ernüchternder, Erfahrung. Was man direkt sehen kann, davon muss man nicht mehr nur repressiv träumen. Kann man alles sehen, kann man bloßer Spekulation entbehren.
Die Emanzipation des Sexus revolutioniert nicht zuletzt auch die erotische Literatur; sie wird, wo immer sie es nicht hinreichend sein sollte, entmystifiziert und ernüchtert. Der Marquis de Sade, Sacher-Masoch, D. H. Lawrence, Joyce, Nabokov, Henry Miller sind allesamt nur verschämte Pioniere, vergleicht man sie mit den Freizügigkeiten des heutigen Bildschirms.
Auch die darstellende Kunst wird ernüchtert bis auf die Knochen. Auch in ihren Werken im Lauf der Geschichte war die Liebe – mit Ausnahme weniger Künstler – stets um die körperliche Dimension verstümmelt; jetzt dagegen sieht man den Liebesakt in vivo bei lebendigem Leibe. Meist ist der Porno und Onlinesex auf das Geschlechtliche beschränkt, denn was die Liebe ist, weiß man sowieso.
Millionen hatten und haben, wie die Besucherzahlen zeigen, Bedarf nach diesen Phantasien, und die Darsteller haben kein Problem damit, sie ungehemmt zu realisieren. Im erotischen Film gibt es (außer bei Abartigkeiten wie Gewaltdarstellungen oder Kinderpornografie) kein sexuelles Tabu mehr, alles liegt unverstellt zutage. Um so hedonistischer die Filme aber sind, desto unrealistischer ist ihre Handlung. Verdirbt und pervertiert diese krasse Verfälschung der Realität nicht das Weltbild der Besucher? Muss nicht Otto Normalverbraucher dadurch an aller moralischen Legitimität verzweifeln? Hat der sogenannte Hays Code, der seit den 20er Jahren die filmische Darstellung von Sex in den USA verbot, vielleicht Recht damit, dass die Filme Personen, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht klar unterscheiden könnten, zu Unmoral und Kriminalität verleiten?
Aber nicht doch, natürlich nicht, man kann ganz beruhigt sein! Denn erstens sind die Zuschauer, die erst ab 18 eingelassen werden, ohnehin alle erwachsen und haben längst ein hinreichend gefestigtes, so leicht nicht zu verstörendes Weltbild; und außerdem erfahren sie, kaum dass sie aus dem Kino wieder hinaus auf das Pflaster treten, die moralische Realität aufs Neue. Außerdem ist kaum ein Konsument des späteren Onlinesex so naiv, die schöne neue Welt der Leinwand für bare Münze zu nehmen. Jedes Kind weiß, was ihm da vorgegaukelt wird, und lässt sich bewusst spielerisch darauf ein. Es sind eben nur träumerische Phantasien, trügerisches Wunschdenken, käufliche Träume! Im Übrigen ist es, wenn es sich um private Paare handelt, so unrealistisch gar nicht; sie lassen uns nur mitverfolgen, was sie in ihren Schlafzimmern auch sonst nicht anders treiben.
Nach Auschwitz, hat es geheißen, kann man kein lyrisches Gedicht mehr schreiben. Kann man in unserem pornografischen Zeitalter noch ein Liebesgedicht schreiben?
Aber natürlich kann man. Ändert die entfesselte Promiskuität auf der Leinwand oder im Netz doch auch heute noch immer nicht das Geringste an der ursprünglichen Einsamkeit des Einzelnen! Wird der Sex dem Unbeweibten visuell verfügbar, so dadurch noch lange nicht in persona! Mit Recht sagt der Dichter: Wenn man auch seiner Krücken spottet, so kann man darum doch nicht besser gehen.
Noch immer bleibt der Einsame seinem sexuellen Elend verhaftet. Der Unterschied besteht nur in der Phantasie: Früher war es Sache individueller Einbildungskraft, sich den Sex vorzustellen, – heute sieht man ihn live auf der Leinwand; was an seinem nach wie vor schimärischen Charakter aber nichts ändert. So wird die Selbstbefriedigung durch den Porno, indem er der Phantasie die Arbeit abnimmt, gleichsam erleichtert. Der Porno hat der Erotik nicht nur – wie, nach dem Wort von Karl Kraus, Heine der deutschen Sprache – so das Mieder gelockert, dass jeder Kommis an ihren Brüsten fingern könne, – er hat ihr so das Cache-sexe heruntergezogen, dass jedermann heute sie ad libitum besteigen kann.
Andererseits lässt die Promiskuität der Leinwand die eigene Einsamkeit des Konsumenten nur desto spürbarer werden. Man sieht jetzt schwarz auf weiß und in Farbe, was einem, während es die anderen treiben, persönlich alles entgeht! Ist das ist nicht recht wenig dazu geeignet, sein Verlustgefühl und seinen Sexualneid zu mildern?
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