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Wann könnte der zwischengeschlechtliche Sex jemals so hedonistisch sein, als wie wenn jeder sich für sich selbst befriedigt?
Wann hielte der Koitus, was die Onanie verspricht?
Hält der Koitus sein Versprechen vielleicht mit Hilfe der digitalen Prothese des Porno?
Elizabeth und Georg in Roches ,Schoßgebete' sehen sich gemeinsam die Videos im Fernseher an. Einmal entleiht sie an einem Tag gleich sechs solcher Filme. Zwar ist es ihr „peinlich, als Frau in die Pornoabteilung zu gehen“, doch fühlt sie sich dann auch „sehr machtvoll“. Sie könnte Buh! machen, dann „würden all die verklemmten Männer, die da rumstehen und normal tun, panisch die Flucht ergreifen“. Glaubt sie.
Am liebsten mag sie alles, was so ist wie die Andrew-Blake-Filme – in denen meist überhaupt nur Frauen vorkommen –, zeigt aber auch Verständnis für Georgs Geschmack.
Sie entleiht sechs Filme: Water, Aria, Girlfriends, Playthings, Wild und Wet. Der hat wohl einen Tick mit dem Buchstaben W, denkt sie.
Allmählich wird sie immer kühner. Andrew Blake ist wie Michael Ninn und Gregory Dark ein Visionär der Erotik. Sie alle drehen Filme in ausgesuchtem Ambiente, mit exklusiver Ausstattung und größerem Budget. Die Starlets sind Aria Giovanni, Anita Blond, Tera Patrick, Janine Lindemulder, Dahlia Grey. Meist spielen Blakes Filme in nobler Umgebung wie Schlössern oder architektonisch anspruchsvollen Apartments und Villen. Typisch für seine Streifen ist das völlige Fehlen von Gestöhne und sonstigen Lautäußerungen der Darsteller. Der Soundtrack beschränkt sich auf unaufdringliche Instrumentalmusik seines persönlichen Stammkomponisten. Dialoge in Blakes Filmen sind ebenso rar wie der Auftritt eines Mannes. Für seine wichtigste Entdeckung, die schöne Aria Giovanni, dreht er eine Hommage auf 35-mm-Film, obwohl der Titel Aria nur als VHS-Kassette vertrieben wird.
Allmählich entwickelt Elizabeth einen ganz eigenen Geschmack. Einmal überrascht sie ihren Gatten mit den nostalgischen Produktionen von Glory Hazel: Sie habe da was aus dem Internet, eine Überraschung, eine DVD: „Ein Zusammenschnitt cooler Sexfilme aus den Siebzigern, haben zwei Frauen gemacht in der Schweiz, die heißen ,Glory Hazel'. Eine Art Kunstprodukt. Sollen wir das mal gucken?“
„Klar. Ohne Tabu!“
Sympathisch mutet ihn an, dass das zwei Damen zuwege gebracht haben. Seit 2009, so das Label, widmen die beiden Schweizerinnen sich dem ,Schaffensfeld zwischen Porno und Gestaltung'. Ihre Motivation dabei sei, dass es im Bereich Porno erschreckend wenig Produktionen gebe, die auch gehobeneren ästhetischen und inhaltlichen Ansprüchen genügten. Beide seien schon lang im Bereich Gestaltung. Die Erfahrung daraus wenden sie auf den Porno an, ihre Herangehensweise dabei sei die gleiche wie bei anderen Darstellungsfeldern – Lust, Sorgfalt, Kreativität. Damit wollten sie den positiven Diskurs und die kreative Auseinandersetzung mit Porno fördern. Glory Hazel verstehe sich aber auch als Aufruf an Kreative, sich des vernachlässigten Terrains anzunehmen.
Glory Hazel habe sich mit Leib und Seele dem Porno verschrieben und spiele lustvoll mit dessen ungenutztem Potential. Im Fokus stehe die sinnlich-kreative und innovative Auseinandersetzung mit diesem ästhetisch vernachlässigten Medium. Zeitgenössische Produktionen seien meist einfallslos, stereotyp, langweilig – ein Brei aus nackter Haut, lustlosem Gestöhne und dumpfer Künstlichkeit, die starke Gleichförmigkeit in Erzähl- und Darstellungsweise schreiend unkreativ. Genau deshalb sehe Glory Hazel in dem Business eine spannende gestalterische Herausforderung: Kreativität und Porno seien durchaus kompatibel. Glory Hazel sei hingebungsvoll auf der Suche nach noch unentdeckten erotischen Highlights, kreativ im stilvollen Recycling vorhandenen Materials und freizügig in eigenen Produktionen. Ziel ist die ästhetisch anspruchsvolle, menschenfreundliche Darstellung sexueller Phantasien.
Die DVD Pornographical Remix Vol. 1-3 recycelt kreativ zahlreiche Pornos aus den Siebzigerjahren. Die Filme enthielten Stellen von ästhetischer Qualität sexueller Darstellung, wie sie heute nicht mehr zu finden sei. Zahlreiche solcher Qualitätsmomente wurden für Pornographical Remix herausgefiltert. Die Schnipsel durchliefen ein sehr persönliches Auswahlverfahren und seien zu einem neuen Ganzen zusammengefügt worden. Alberne Dialoge und omnipräsentes Gestöhne wurden durch eigens dafür komponierte Musik ersetzt. Die drei Filme verzichten ganz auf Storytelling, vielmehr sind es erregende Stimmungscollagen, die sich vom heute gängigen Brei aus nackter Haut und dumpfer Künstlichkeit wohltuend unterscheiden.
Ob die drei Remixes auch den Ansprüchen Georgs und Elizabeths genügen? Während der Film im Fernseher läuft, beginnen sie halb ausgezogen auf dem Sofa mit Fellatio und Cunnilingus. „Wir gucken Pornofilme, um uns in eine Art Rauschzustand zu versetzen. Wir vergessen alles um uns herum, als hätten wir Sexdrogen genommen. Es hat was sehr Entspannendes, wenn man daliegt und anderen beim Sex zuguckt, wenn man es schafft, wie ich an diesem Abend, das kranke Eifersuchtszentrum auszuschalten. Wir haben dann wilderen Sex währenddessen oder danach als sonst. Dafür gucken wir die.“ Im Moment höchster Erregung dringt er in sie ein und versucht, sich so lange zurückzuhalten, bis zuerst sie gekommen ist. Danach ergießt er sich wie ein Katarakt in sie.
Wir gucken Pornofilme, um uns in eine Art Rauschzustand zu versetzen: Ein Sexualrausch des mit Neurotransmittern, Hormonen und Glücksmolekülen gefluteten, gesättigten Gehirns: Endorphin, Serotonin, Dopamin, Noradrenalin. Mal geschüttelt, mal gerührt. Sie gelangen auf jene Seinsebene, „wo nichts gilt außer dem Lustgebräu, das in ihrem Körper gärt; wo, was als genussreiche Dehnung ihrer innersten Wurzeln begonnen hat, zum glühenden Prickeln wird, das sich dann in einem Zustand absoluter Sicherheit, Zuversicht, Zuverlässigkeit befindet, die nirgends sonst im bewussten Leben zu finden ist, da die tiefe, heiße Süße gesichert und auf gutem Wege zur äußersten Verzückung ist“ – ein Sexualrausch, wie der leidenschaftliche Mensch ihn sein Leben lang immer nur in der einsamen Selbstbefriedigung erlebte und der erst durch den erotischen Film seine volle Intensität erreicht.
Ein Rausch ihres mit Sexualhormonen, Glücksmolekülen und endogenen Drogen überschwemmten und durchsogenen Gehirns, zu dem eine sinnliche Frau in Ermangelung des vaginalen Orgasmus ausschließlich in ihrer einsamen weiblichen, nur klitoralen Masturbation gelangt. Ein libidinöser Rausch, auf dessen ekstatischem Höhepunkt sie mit einem realen Partner verschmelzen zu können sie sich ein Leben lang wünschte, dessen volle Intensität sie aber erst vor der erotischen Leinwand oder dem Internetbildschirm erfuhr.
Derselbe Rausch des mit Endorphinen, Hormonen, Glücksmolekülen ekstatisch gesättigten limbischen Systems, den auch ihr phallischer Mann sein Leben lang immer nur in der einsamen Onanie erfuhr; derselbe Rausch, in dessen Klimax er erst durch den Onlinesex gelangt – und wie er ihn seit je in orgiastischer Vereinigung mit dem realen ,Weib' hat erfahren wollen. Wird es ihr, Elizabeth, und ihm, Georg, gelingen, ihrer beider Ekstase so in orgasmische Koordination zu bringen?
Elizabeths Wertvorstellungen haben sich entscheidend gewandelt. Sie habe viel vom Porno gelernt. Ganz wie eine moderne junge Frau. Ihr Gespons Georg ist glücklich darüber. Mit der Zeit wird sie immer lockerer: „Ich hatte mich ja in ihn verliebt wegen seiner ungebremsten männlichen Sexualität. Um meine Mutter zu ärgern, habe ich mich in den archaischsten, sexuellsten Mann, den ich finden konnte, verliebt, und er, um seine Mutter zu ärgern, sich in mich, die Antichristin, das Gegenteil von katholisch, so unkatholisch, dass ich fast schon wieder katholisch war!“ –
Sie hören sogar von Paaren, die lieber gemeinsam vor dem Bildschirm masturbieren, als ihren ,ehelichen Pflichten' nachzukommen. Was der Bastard Edmund in ,König Lear' über den Seitensprung sagt, gilt heute für den Sex im Netz:
… Bastard? Unecht?
Uns, die im heißen Diebstahl der Natur
Mehr Stoff empfahn und kräft'gern Feuergeist,
Als in verdumpftem, trägem, schalem Bett
Verwandt wird auf ein ganzes Heer von Tröpfen,
Halb zwischen Schlaf gezeugt und Wachen?
Bei Elizabeth ist es nicht anders. War es immer schon ihr Problem, beim Sex der Selbstbefriedigung ihres Partners so nah wie möglich zu kommen, so ist ihre Utopie: zusammen das gleiche Vergnügen zu finden wie jeder für sich, durch den heutigen Onlinesex ungeheuer erleichtert. War es nicht immer sein Problem, seine narzisstische Lust mit der beiderseitigen Lust in Kongruenz zu bringen? In den Bordellen konnte davon keine Rede sein, da kam es nie soweit: Seine Freude in den Freudenhäusern war nur ein öder, epigonaler Abklatsch seiner einsamen Ekstasen. Erst bei Elizabeth sieht er eine Chance.
War es nicht immer ihr Problem, ihre narzisstisch klitorale Lust mit der koitalen in Kongruenz zu bringen? Erst beim gemeinsamen Pornokonsum sieht sie eine Chance.
Folgen wir ihren Gedanken in ,Schoßgebete' – 2013 von Sönke Wortmann mit Lavinia Wilson und Jürgen Vogel verfilmt –, denn was einer Frau beim Sex durch den Kopf geht, das weiß, außer vielleicht Joyce, nur die Frau selber. So liegen sie auf ihrem auf vierzig Grad erwärmten Bett und schauen an die Decke, während sich ihre Körper in der Wärme entspannen. „Ich fang da schon an, tief zu atmen, und grinse in mich rein, in vorfreudiger Erregung.“ Sie dreht sich um und küsst ihn und schiebt die Hand in seine XXL-Yogahose. Sie weiß, sie muss, wenn sie miteinander Sex haben, seiner Selbstbefriedigung so nahe wie möglich kommen. Sie weiß aber aus eigener Erfahrung, das ist fast nicht zu schaffen...
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