Blog 113
In seiner ,Philosophie des Unbewussten' 1869 zieht Eduard von Hartmann im Anschluss an die Kantische Stelle eine aufschlussreiche Bilanz: „Wer aber wirklich ausnahmsweise sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei hält und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampfe überwindet, der hat in diesem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung, dem Zeitraum wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut, eine solche Summe von Unlust zu ertragen, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wieder gut machen kann. Das Alter der Verheiratung der Männer rückt aber mit fortschreitender Kultur immer höher hinauf, der provisorische Zeitraum wird also immer länger und ist am längsten gerade bei den Klassen, wo die Nervensensibilität und Reizbarkeit, also auch die Qual der Entbehrung am größten ist.“
Gut gebrüllt, Löwe! Da schlägt die moderne Psychologie bereits eine Brücke zur Lyrik und jedwede Literatur der Romantik. Denn: „Nun müssen wir uns vor Augen halten“, so Viktor Tausk in der Tradition Kants und von Hartmanns, „dass ,zeitgemäß' im Sinne der Kultur mit dem ,zeitgemäß' im Sinne eines individuellen Entwicklungsstadiums des Menschen nicht zusammenfällt. Für den normal entwickelten Menschen ist sexuelle Abstinenz nach eingetretener Pubertät eine kulturell-pädagogische Forderung, ein artifizielles Postulat, das nur aus den Kulturforderungen heraus, nicht aus dem biologischen Moment der individuellen Entwicklung zu verstehen ist …
Das biologische Moment der Forderung nach Abstinenz von der Onanie in der Pubertät ist die Notwendigkeit der Objektwahl im Dienste der Arterhaltung. Dieses Moment wird vom pädagogischen mit einer dem biologischen nicht ganz angepassten Modifikation vertreten. Denn die Kulturforderung lautet: Abstinenz von Onanie und Aufschub der Objektwahl. Der Puber soll ein Mann sein, indem er auf die infantile Sexualbetätigung, auf die Onanie verzichtet, aber er darf kein Mann sein, denn er darf kein Sexualobjekt wählen. Die Gegenwart bietet keine Entschädigung für den Verzicht, sie hat nur Strafen für die Übertretung des Verbotes, und sie bemüht sich, den Puber durch geistige Verarbeitung seiner Begierden vom Wunsch nach Betätigung des Sexualtriebes abzulenken … Der Puber hat seine Aggression nach allen Seiten lahmgelegt. Das ist die Geburt der Lyrik. Ihr Inhalt ist Sehnsucht, nicht Befriedigung, ganz entsprechend dem wirklichen Zustand der Libido des Lyrikers.“
Zur Klasse mit der größten Nervensensibilität und Reizbarkeit gehören aber gerade die genannten literarischen Puber Flaubert, Kafka, Thomas Mann etc. Ebenso der romantische lyrische Puber Harry Heine aus meinem Roman ,Des Lebens flaumenleichte Frühe': Tatsächlich scheinen seine erotischen Tagträume von eben jener schwer realisierbaren Art – da die von ihm begehrten Frauen doch allzu viele und unerreichbare sind! „Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt“, schreibt er, „ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere mit ihren sämtlichen Gliedmaßen zeit ihres Lebens.“ Da wäre es dann, wenn nicht menschenunmöglich, jedenfalls doch menschlich höchst ungeschickt und unökonomisch, wenn er aus solch loderndster sinnlicher Glut heraus seine Vernunft zu keinem ersprießlicheren Zweck gebrauchen wollte, als die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampfe zu überwinden, – als sie stattdessen vielmehr dazu zu gebrauchen, zumindest halbwegs befriedigend über die Runden zu kommen!
„Warum denn hatte ich nicht Vernunft genug, die Leidenschaft zu besiegen?“, hält er seinem Freund Alexandre vor. „Weil die Leidenschaft stärker war als die Vernunft! Ich war darin nicht frei; ich bin es ja nicht, der mir Leidenschaft und Vernunft gegeben hat. Von Kind an liegt das in mir, in Leib und Seele, ebenso wie die Gabe der Poesie.“
„Alle Menschen onanieren. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme“, konstatierte lapidar Wilhelm Stekel. „Diese Phantasien machen die Onanie dem Individuum, das sich an sie gewöhnt hat, unentbehrlich. Sie können in den seltensten Fällen von der Wirklichkeit erreicht und durch eine nur einigermaßen befriedigende Realität abgelöst werden. So wird die Onanie zur einzigen adäquaten Form der Befriedigung für viele Menschen … Dass die Onanie von dem einen glänzend vertragen wird, von dem anderen nicht, das hängt nur davon ab, ob sich mit ihr ein Schuldbewusstsein verbindet oder nicht.“
Alle Menschen onanieren, so der objektive szientifische Befund. Was folgt daraus?
Indem die sexuelle Selbstbefriedigung im Wesentlichen mit der Tätigkeit des Geistes – der erotischen Phantasie – Hand in Hand geht, eröffnet sie eine mentale Dimension des Hedonismus, die mit der ,normalen' Lust beim zwischenmenschlichen Geschlechtsverkehr bei weitem nicht erreichbar und zu erschöpfen zu sein scheint; daher die landläufige Redensart, dass der Einzelne durch die Onanie ,verwöhnt' und ,verdorben' wird: ,verwöhnt' nämlich und ,verdorben' für den normalen Akt der Geschlechter.
Koitus und Sexuallust sind gleichwie zwei getrennte Welten. Orgasmus ist nicht gleich Orgasmus; denn der Orgasmus erscheint als um so befriedigender, je mehr das zerebrale elektrochemische Feld der Lust – das Feld, in dem die sexuelle Erregung besteht! – vorab bereits akkumuliert und hormonell gesättigt ist; das ist aber durch den normalen Geschlechtsakt kaum zu erreichen. Begegnet jemand – und Stekel zufolge jedermann! – der zwischengeschlechtlichen Liebe, wird er, durch den Liebesakt wie Karl Kraus ,enttäuscht', sein gewohntes Lustbedürfnis auf das ,natürliche' Mittelmaß einschränken müssen – eine Erfahrung, die längst im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Daher, dass die wilhelminischen Erziehungspersonen seit jeher versuchten, ihre Zöglinge tunlichst daran zu hindern, sich durch den sexuellen Selbstgenuss zu ,verwöhnen'. Die im Lauf der Geschichte dafür angewandten Mittel sind notorisch.
Es scheint aber ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Der natürliche Trieb ist zu stark und durch keine noch so wohlmeinenden pädagogischen Zwangsmaßnahmen zu unterdrücken. Besser daher – so die Erkenntnis, die sich beim heutigen Pornozeitalter automatisch durchgesetzt hat –, man lässt die Jugendlichen uneingeschränkt gewähren. Es ist offenbar ein anthropologischer Gemeinplatz, vor dem das Menschsein nicht zu bewahren ist.
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