Blog 57
Beim Sex mit Mathilde gibt Henri sich nach Möglichkeit zufrieden. Ist aber auch sie befriedigt? Er kennt eine Unzahl romantischer Liebesromane und hat Ovids ,Ars amatoria' (– im heutigen Onlinesex rüder als ,sex art' wiedererstanden!) im lateinischen Original gelesen, aber nicht allzu viel daraus gelernt. Wie steht es um die Kunst der Entjungferung, falls Mathilde noch Jungfrau ist? Er geht auf die vierzig zu und weiß nicht, dass es auch in der körperlichen Liebe bestimmte Möglichkeiten gibt, darunter – während der Mann mehr oder minder immer zum Orgasmus kommt – neben der Masturbation vielleicht nur eine einzige, auch die Frau kommen zu lassen.
Da man beim Sex niemals mit Sicherheit wissen kann, was der andere fühlt, gibt es zum Höhepunkt der Frau höchstens einen Weg: Man muss ihr die Initiative überlassen. Hat stets nur er die Zügel und reibt sich so lange an ihr ab, bis er kommt, dann benutzt er ihr Geschlecht wie eine Art Sache, einen Gegenstand, an dem er sich die Hörner abstößt, woraufhin er einknickt, und einnickt – während sie keinen Widerstand mehr findet und gezwungenermaßen in der Etappe bleibt.
Es geht also immer nur anders herum: Er hält still, überlässt ihr die Initiative und lässt sie gewähren. Sie stößt sich tief aus dem Becken heraus an ihm und benutzt umgekehrt sein Ding als Widerstand, an dem sie sich scheuert und gerade so wendet und windet, wie es ihre Lust verlangt. Er muss stillhalten währenddem. Ist sie nicht allzu ungeschickt, wird sie vielleicht ans Ziel kommen; andernfalls sie sich ja gleichzeitig nach Belieben selbst klitoral masturbieren kann. „Ich habe auch das Gefühl, dass ich am schnellsten komme, wenn ich es mir nehme, wie ich es brauche“, sagt Elizabeth Kiehl in Charlotte Roches ,Schoßgebete'. „Also ich meine, dass ich eigentlich seine Stoßbewegungen vollführe, ich haue mich gegen seinen Schwanz, mehr als dass er mich stößt. Dann ist es für mich genau der richtige Rhythmus. Und eine Sache von Sekunden, bis ich komme.“
So wird sie, sich selber gegen ihn rammend, zumindest einen gewissen Höhepunkt haben; denn Höhepunkt ist nicht gleich Höhepunkt, Orgasmus nicht gleich Orgasmus.
Also muss der Mann, wenn ihm ihre Lust nicht gleichgültig ist, sich zuerst und vor allem beherrschen, nicht zu früh zu kommen; denn erschlafft sein Fleisch durch die vorzeitige Ejakulation, hat sie keinen Angriffspunkt mehr und alle Anstrengungen sind umsonst. Erst wenn ihre Lust keiner weiteren Steigerung mehr fähig, oder sie gar schon gekommen ist, ist es wieder an ihm, erneut in Aktion zu treten. Er wird dann, durch ihre Ekstase beflügelt, keine Mühe mehr haben, mit kräftigen Stößen zu kommen.
Besser noch, die Liebenden beschränken ihren Akt nicht bloß auf den abdominalen Kontakt. Der Mund der Liebenden ist nicht nur zum Küssen da. So schon Büchners Danton zur Grisette Marion: ,Du könntest deine Lippen besser gebrauchen.'
Oralsex ist keineswegs zu verachten. Der annähernd 40-jährige Dichter aber denkt nicht daran. Ist es vielleicht die linkische Hemmung Mathildens selbst, die ihn hindert, sich als der routinierte Liebhaber zu beweisen, für den er sich seit eh und je hält? Auch das hätte ihn natürlich nicht blockieren dürfen.
Durch etwas, ihre mangelnde Teilnahme vielleicht, fühlt er sich gehemmt. Viel später erst denkt er zurück, wie er das Liebesspiel von Anfang an hätte gestalten müssen. Schier überflüssig, es zu beschreiben, da es heute schon jedes Kind vom Onlinesex her kennt.
Er sollte mit zärtlichen Küssen beginnen, dann aber, wenn sie in ihrer ganzen hingegebenen Blöße vor ihm liegt, mit seinen Lippen über ihre Brüste, Bauch, Schenkel zu ihrem jungfräulichen Geschlecht hinunter weiden. Dort, unterm dichten Busch ihrer Scham, sollte er sie mit dem Mund stimulieren und, seine Lippen auf ihren Labien, leckend und saugend ihre Klittie liebkosen. An ihrem Stöhnen könnte er erkennen, wie es und was ihr gefällt. An ihrem Stöhnen sollt ihr sie erkennen!
Seine Zunge sollte dann tiefer in ihre inneren Labien dringen, deren wulstiges Entgegenschwellen ihm ihre Erregung verriete. Und erst wenn es nicht weiter mehr ging, er das ganze Potenzial ihrer Erregbarkeit erschöpft und ausgereizt hätte, dürfte er davon lassen.
So sollte er's von Anfang an halten. Sein Mund könnte zwischendrin ihr Geschlecht – ohne es doch ganz aus der Hand zu geben – verlassen und wieder ihren Leib aufwärts wandernd ihren Mund suchen, dann aber, um sie nicht zu lange darben zu lassen, wieder an ihrer Klit prüfen, ob sie noch weiter erregbar ist...
Bläht ihr vaginales Schwellgewebe sich schon wie die Schwimmblasen eines Frosches? Wieder mag seine gespitzte Zunge schlangenartig in ihr züngeln, – dann aber müssen seine von präejakulatorischen Sehnsuchtstropfen geölten Finger in ihr Fötzchen dringen, da sie tiefer als die Zunge reichen und einen kräftigeren Druck erlauben. Das Entscheidende ist ja der Druck, ein peu à peu zunehmender Druck, denn nur ein starker Druck vermag das zerebrale Feld der geschlechtlichen Erregung – das Feld, in dem die geschlechtliche Erregung besteht! – noch stärker zu stimulieren.
Und erst, wenn er das eine Zeitlang getrieben, erst wenn er am Grad ihrer Erregung ermisst, dass sie nicht weiter mehr steigerbar ist – oder sie unter seiner Zunge oder den Fingern gar schon kam, – erst dann sollte er sie mit seinem Glied, das jetzt zum Bersten gespannt ist, penetrieren dürfen. Ab da ginge es dann, wenn und solange sie noch nicht kam – oder er selbst es nicht weiter mehr aushielte –, libidinös ad libitum weiter. Warum in Dreiteufelsnamen sollte man mit seiner eigenen Frau nicht de facto realisieren dürfen, was man sich an den Vulven so vieler Frauen schon lange Jahre imaginativ ausgemalt hat?
„Er macht meine Beine breit und legt sich mit dem Kopf dazwischen, damit er alles ganz genau sieht“, so Elisabeth Kiehl. „Er untersucht mich Millimeter für Millimeter, wie ein Frauenarzt. Sagt man bei Erwachsenen auch Doktorspiele?“
Irgendwie muss ein Mann sich heute im Bett wie ein routinierter Chirurg oder promovierter Gynäkologe fühlen, – wie anders denn würde man irgend zum ausgewiesenen Frauenkenner?
All dies aber passiert immer noch stumm hinter den heimlichen Kulissen des Subjekts, so als hätten wir keinen Mund oder könnten ihn nicht wie es sich gehört gebrauchen. Besser also, wir reden auch beim Sex miteinander und verklickern uns gegenseitig klipp und klar, was uns besonders gefällt.
„Schmeichelnde Laute und liebliches Flüstern sollen nicht aufhören, und mitten im Spiel sollen dreiste Reden nicht verstummen.“ Ovid. So nur kriegt er heraus, was sie antörnt, was nicht. Wie sonst sollte er erfahren, an welchen erogenen Zonen ihres üppigen Leibes er sie liebkosen muss? Wie anders, welchen Druck dabei ausüben, wenn nur sie das wissen und ihm mitteilen kann? Das ist ja gerade das Typische an der subjektiven Empfindung: dass – gleichwie der Partner – nur die Person selber von innen heraus weiß, wo und was sie empfindet, und der Andere, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, es niemals von außen her weiß! Bei den Sinnen ist Einsamkeit. Zur Einsamkeit der libidinösen Empfindung dringt auch der Liebende nicht vor.
Auch der versierteste Don Juan ist hier wie ein Dilettant, der in der Geliebten Intimität herumpfuscht, ohne zu wissen, was er im Grunde tut. Wenn irgend, so hier gilt das neutestamentarische ,Denn sie wissen nicht, was sie tun'; – und ein Pfuscherirrtum, zu glauben, dass man es überhaupt wissen könnte. Es sind und bleiben, den Spaniern nach, ,bastonazos del ciego' – die Stockschläge eines Blinden.
Ist doch auch die Lust, die der Liebende spendet, immer nur eine Lust aus zweiter Hand, von außen her über das Medium des Fleisches, – wohingegen die wahre Lust genuin und authentisch nur von innen, aus dem mentalen Ich der Person aufsteigt! Der Liebende, auch der größte Romeo, hat stets den Schwarzen Peter. Er ist der subjektiv empfindenden Geliebten gegenüber wie der Hase im Wettlauf mit dem Igel: Glaubt der Hase sich triumphierend im Ziel, ist der Igel jeweils schon da. Der Liebesakt ist ein Wettlauf, bei dem uns das Ziel schon eingeholt hat.
Ist nicht der männliche Beschäler da immer nur der libidinöse Epigone der weiblichen Lust, der ihr nur einen zweitklassig epigonalen Abklatsch jener Lust zu spenden vermag, die sie aus ihrer einsamen Selbstbefriedigung schöpft? Ist nicht die Frau da immer nur der Epigone der männlichen Lust, die ihm nur einen zweitklassigen Abklatsch jener Lust verschafft, die er von seiner gewohnten Masturbation her kennt? Kein Mann kann mit der weiblichen Onanie, kein Weib mit der männlichen konkurrieren. Daher sieht Elizabeth Kiehl ganz richtig: „je näher ich mit meinen Händen und Füßen seiner Selbstbefriedigung komme, umso besser für ihn“ – und vice versa! Die Onanie ist die Asymptote des Koitus.
Aber zumindest das: ein einigermaßen gelungenes Epigonentum, sollte sich da vom Partner erwarten lassen! Die Geliebte weiß das und könnte ihn lehren, wie und wo er sie anfassen muss, denn auch eine junge Dirn ist, wenn auch Jungfrau, immer schon so erfahren in der Masturbation, dass sie ihre Lustfähigkeit aus dem Effeff heraus kennt. Das ist ja gerade das Charakteristische, wenn nicht Tragische, am Sex: dass nur die Person selbst und von innen her weiß, wo und wie es ihr oder ihm gefällt, so dass sie es sich immer nur selber am besten – oder immer am besten nur sich selber – macht und man sich am Ende allen Ernstes fragt, wozu es da eines Partners überhaupt noch bedarf und ob sie mit ihm nicht eher, statt sie zu steigern, auf ihre eigentliche Lust verzichtet!?
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