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In meinem Roman ,Die Liebe in den Zeiten des Internets' (Kindle-Taschenbuch) sind die Erfahrungen des Protagonisten Harry beschrieben, als er – in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts – erstmals ein Pornokino besucht. „Porno hatte was Aufregendes“, schrieb der Schriftsteller Norman Mailer anlässlich der Doku ,Inside Deep Throat'. „Er lebte in einer Art Zwischenwelt zwischen Verbrechen und Kunst. Und er war abenteuerlich.“
So auch für Harry. Kaum hat er die ersten promiskuitiven Szenen der Leinwand gesehen, ist es wie eine visuelle Offenbarung, eine Epiphanie sensationeller Unsittlichkeit. Eine sexuelle Revolution ohnegleichen, wie sie im Buche steht und ihren Begriff echt verdient. Das ist die endgültige Befreiung des menschlichen Sexus und libidinösen Instinkts aus seiner jahrtausendealten Knebelung und Verdrängung. Das ist eine neue Zeit, eine neue Welt!
In seinem bisherigen Leben war alles Geschlechtliche wie durch einen undurchdringlichen eisernen Vorhang gesellschaftlicher Tabus und sexueller Repression verhängt gewesen! Jetzt ist der Vorhang zerrissen. Der Pornofilm lichtet den nebulösen Schleier und zeigt den Sex erstmals in seiner unverstellten Natur.
Kaum ist er ein paar der lasziven Aktionen auf der Leinwand gefolgt, spürt er es schon unabweisbar in seinen Lenden kribbeln. Nirgends würde man, wüsste man es nicht längst, deutlicher als beim Porno erfahren, wie sehr der Sexualinstinkt über die visuelle Wahrnehmung – das Eingangstor der Phantasie und Seele – funktioniert. So schon in Shakespeares ,Merchant of Venice', III,2:
Tell me where is fancy bred,
Or in the heart or in the head? ...
It is engender’d in the eyes,
With gazing fed ...
„In Nordwest-Melanesien“, berichtet der Philosoph Ludwig Marcuse in Anlehnung an Bronisław Malinowski, „nennen sie die Augen den Sitz der Begierde (wörtlich: ,Wunsch nach Begattung'). Ihre psychophysische Geschlechtstheorie lautet: Von den Augen überträgt sich der Wunsch auf das Gehirn und breitet sich über den ganzen Körper auf Bauch, Arme und Beine aus. Das Geschlechtsorgan ist der Endpunkt. Wenn also die Augen ein Objekt der Begierde erblicken, ,wachen sie auf' und geben den Impuls an die Nieren weiter, die ihn in den Penis leiten und so die Erektion hervorrufen. Daher sind die Augen die Hauptursache aller geschlechtlichen Erregung; sie sind ,die Dinge der Begattung, das, was in uns den Wunsch, zu begatten, erweckt'. So sagen die Eingeborenen: ,Ein Mann mit geschlossenen Augen hat keine Erektion'.“
Auch Harrys Augen stehen weit offen – Eyes wide shut –, – was Wunder, dass seine Erektion nicht lang auf sich warten lässt. Es ist, als gingen die Bilder von der Leinwand direkt in sein Blut über. In der gesamten Geschichte der Menschheit hat es dergleichen psychophysisch nicht gegeben. Gut möglich, dass der Sexualtrieb während der Evolution, in der Form angeborenen Instinkts, primär an die visuelle Wahrnehmung geknüpft wurde, – noch nie aber hatte der Mensch den Sexus in derart promiskuitiver Anschaulichkeit vor Augen wie im heutigen Film. Für einen geringen Eintrittspreis flimmern die sagenhaftesten Orgien Babylons, Sodoms und Gomorrhas oder des alten Roms so über die Leinwand, wie man sie stets hat erzählen hören und sie sich dabei plastisch vorgestellt hat.
In seinen Zwanzigern kann Harry – und jeder andere junge Mann, der es darauf anlegt – an einem einzigen Wochenende mehr weibliche Vulven und Muschis sehen als Casanova und Rasputin in ihrem ganzen Leben.
Manchmal, wenn er es übertrieb, ist er von den sexuellen Motiven so angefüllt und übersättigt, dass, wenn er die Augen schließt, ihm all die diversen Bilder obsessiv wie ein Insektenschwarm auf der Retina flimmern. Man hätte König Salomo gewesen sein müssen, ein chinesischer Kaiser oder osmanischer Sultan mit ihren Harems von tausend Weibern, um so viele Muschis aus der Nähe sehen zu können wie heutigentags jeder Azubi an einem einzigen hedonistischen Weekend.
Und das ist gut so. Das menschliche Geschlecht wird endlich auf anschaulich-rationale Weise entmythologisiert, entmystifiziert, enttabuisiert. Zumal das weibliche zeigt sich als das, was es objektiv ist: der harmlos unverfängliche Reproduktionsapparat der Säugetiere.
Machten und machen die männlichen Romantiker und Erotomanen aber, indem sie ihre subjektiv erregte – nicht selten hypertrophierte – Sinnlichkeit hineinprojizieren und sich alle Wunder und Weihen, die ihnen ihre überhitzte Phantasie vorgaukelt, davon erwarten, nicht einen magischen, jetzt entzauberten Fetisch daraus?
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