Blog 139
Charlotte Roches Roman ,Schoßgebete' wird von Thomas Steinfeld in der ,Süddeutschen Zeitung' vom 27. Juli '12 wie folgt rezensiert:
In einem der großen literarischen Werke des 19. Jahrhunderts – so Steinfeld, ohne zu verraten, welches er meint – gebe es einen Bericht von einem geselligen Abend, in dem die dabei anwesenden Herren ihre sexuellen Bedürfnisse vergleichen. Den einen drängt es sehr zu den Frauen, mindestens täglich, den anderen weniger. Und einer aus der Runde – es kommt hier nicht darauf an, wer – gibt offen zu: ein Beischlaf im Monat, das sei ihm genug.
Gewiss, die Herren, so Steinfeld, sitzen in vertrauter Runde und meinen, sich auf die Diskretion der anderen verlassen zu können. Und doch sei ihre Gelassenheit bemerkenswert. Sie spürten keinen Druck. Niemand bedränge sie – und schon gar nicht den einen, der einfach nur feststellt, auf dem Markt der Begierden allenfalls ein seltener Besucher zu sein.
„Diese Freiheit“, so der Kritiker, „ging, im westlichen Teil der Welt, im 20. Jahrhundert verloren.“ Das liege nicht nur daran, dass der Geist des Wettbewerbs bis in die hintersten Winkel des Privatlebens vorgedrungen ist. Es gehe auch nicht nur darauf zurück, dass die Liebe in derselben Zeit zur größten aller Verheißungen geworden sei und im Beischlaf ihre höchste Erfüllung finden sollte.
„Nein“, so Steinfeld, „dem sexuellen Akt selbst wird seither eine Bedeutung zugeschrieben, wie er sie nie zuvor besaß, eine Bedeutung, die viel größer ist, als sie dem Essen oder dem Wohnen oder sonst einer praktischen Beschäftigung je zugemessen wurde. Und wenn man lange meinen konnte, in dieser Bedeutung spiegele sich vor allem die Unterdrückung der Sexualität, so wie sie über die Jahrtausende hinweg betrieben wurde, so ist es doch seit geraumer Zeit mit den Tadeln und Verboten ebenso vorbei wie mit dem Bedürfnis nach noch mehr Aufklärung. Es ist, hierzulande, nichts mehr übrig, was aufgeklärt werden müsste. Warum also muss der Beischlaf dennoch immer wieder beschworen werden, tausend und noch einmal hunderttausend Mal, auch wenn er so leicht zu haben ist, wenn sich nichts darin bestätigt und gar nichts daraus folgt? …
Wozu das alles gut sein soll, wäre da die falsche Frage. Denn hier schreitet, zur Unterhaltung breiter Leserschichten, eine methodisch operierende Sinnlichkeit voran, die sich fest verbunden glaubt mit dem Leben als solchem. Da mag, was sie tut, auch noch so sehr der Arbeit gleichen: Der ,Wahrheit' gilt es auf den Grund zu gehen. Sie soll, ausgerechnet, zwischen den Beinen liegen.“
Das ist der von ihm so genannte ,Fundamentalismus des Geschlechtslebens'.
Noch aber sei „die Frage unbeantwortet, warum sich, in einer weitgehend libertären Gesellschaft, immer noch so viele Energien auf die Sexualität werfen können... ,Kein Autor aus den Blütezeiten des Romans bis zum 20. Jahrhundert hat seine Protagonisten denken, fühlen, glauben, zweifeln und unverhüllt vögeln lassen', heißt es in einem Aufsatz, in dem Roger Willemsen vor Jahren einmal eine Anthologie erotischer Literatur einleitete. ,Sollten sie das tun, so begann der Autor einen neuen Text, in dem sie nun kaum etwas anderes trieben.'“ Das liege daran, dass „Sexualität bis noch vor wenigen Jahrzehnten eingebettet war in ein dichtes Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen, in soziale Hierarchien, Sitten und Rituale, in unerbittliche moralische Forderungen und feste Traditionen. Wollte man ihnen entkommen, musste man gleichsam die Flucht in den Giftschrank antreten.“
Dagegen habe die befreite Sexualität, so Steinfeld, nun zweierlei Konsequenzen: „Zum einen wird sie banal, zum ,alten Rein-Raus-Spiel', wie sie Anthony Burgess in seinem Roman ,Uhrwerk Orange' nannte. Zum anderen aber fordert sie, selbstständig geworden, erst recht alle höheren Erwartungen heraus, die zuvor ein über Jahrhunderte eingespielter kultureller, bis in die Sakralsphäre reichender Zusammenhang aufgefangen hatte. Sie wird absolut, sie wird zum Fetisch, zum Gegenstand eines eigenen Fundamentalismus: ,Der Trip beginnt', lautet der letzte Satz in diesem unerheblichen, trivialen, ja verlogenen Buch, das also gar nicht zufällig das Wort ,Gebete' im Titel trägt. Denn es huldigt dem Glauben an eine rettende Erfahrung. Und weiß doch, dass es sie nicht gibt.“ Wirklich nicht?
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