Blog 137
Fassen wir zusammen:
Offenbar verfügt das Menschenhirn über ein – individuell variables, mehr oder minder opulentes – Reservoir von natürlichen Neurotransmittern, Endorphinen, Sexualhormonen und -peptiden, die gut als körpereigene Opiate und endogene Drogen (Sexdrogen, laut Charlotte Roche) gesehen werden können. „,Wir sind ein Chemiebaukasten'“, heißt es in Schätzings Limit. „Marianne fühlt ihren Erregungsspiegel steigen. Das hier ist bedeutend weniger langweilig als alles, worauf sie noch zu hoffen gewagt hat. ,Endorphin, Serotonin, Dopamin, Noradrenalin. Mal geschüttelt, mal gerührt.'“
Ausgeschüttet und releast werden diese endogenen Drogen gewöhnlich bei Erfolgserlebnissen aller Art, besonders aber im geschlechtlichen Orgasmus.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals diesen Prozess. Im Grunde geht es der Natur beim Koitus und der koitalen Lust lediglich darum, die körpereigenen Drüsen und ihrer Vesikel zur Ausschüttung einer möglichst großen Menge solcher Sexualhormone, Peptide und deren ,Glücksmoleküle' zu bringen. Je mehr davon in das elektrophysiologisch gespannte neuronale Areal sexueller Lust gelangen und mit eingebunden werden, desto intensiver ist die Erregung – und deren finale Entladung im orgasmischen Blitz. Beim intersexuellen Koitus der Partner vollzieht der Prozess sich entsprechend dem Grad ihrer sexuellen Erregtheit im Rahmen der aufgewandten Zeit, die – in deutschen Betten durchschnittlich 17 Minuten – in der Regel auf ein einigermaßen überschaubares Maß beschränkt sein dürfte und normalerweise recht schnell über die Bühne geht...
Anders bei der sexuellen Selbstbefriedigung – und insbesondere in Anbetracht des Onlinesex im Internet: Hier zapft die Person ihr hedonistisches Reservoir und Suchtmitteldepot ja ganz ungeachtet eines möglichen Partners eigenständig und absichtlich an, um sich den gewünschten wollüstigen Kick selbst zu verschaffen. Sie macht dabei die Erfahrung, dass von ihren willigen Drüsen desto mehr an Sexualhormonen, Peptiden, Glücksmolekülen – zusammen mit der durch sie induzierten Lust – ausgeschüttet werden, von je mehr der reizenden Eindrücke des Bildschirms pro Zeiteinheit sie überschwemmt und geflutet wird, je mehr der Bilder und Motive – sechzehnmal pro Sekunde, 57600 mal pro Stunde – sie visuell absorbiert, – und je mehr Zeit sie vor dem Bildschirm verbringt, desto infiltrierter und gesättigter wird das Feld sexueller Ekstase. Es geht also nicht um eine Art Leidenschaft oder auch nur zärtliches Interesse für die Frauen auf dem Bildschirm, es geht nur darum, die eigenen Drüsen dazu anzuregen, möglichst viele ihrer Hormone und Luststoffe freizusetzen. Dabei spürt die Person – à la Nabokov – am Rande des Wollustabgrunds (dies Ausbalancieren eines physiologischen Gleichgewichts, das sich mit gewissen Kunsttechniken vergleichen lässt) genau, in welchem Grad ihre Erregbarkeit bereits gesteigert, ob und wann das maximale Potential ausgeschöpft ist; und sie wird ihr Lavieren am Rande des Wollustabgrunds gerade so lange ausdehnen und aufrechterhalten, als sie das Gefühl hat, ihr hedonistisches Potential noch nicht vollständig ausgeschöpft zu haben. Erstreckt die Person ihren Konsum des Porno- und Internetsex über genügend lange Zeit – tatsächlich hören wir von Habitués, die stundenlang vorm Bildschirm sitzen –, – so erfassen und überspülen die freigesetzten Hormone und Drogen schließlich ihr gesamtes Blut und Nervensystem, so dass sie in eine Art Rausch gerät, der dem beim Alkohol- oder Drogenrausch vergleichbar scheint: „Wir gucken Pornofilme“, so Elizabeth Kiehl, „um uns in eine Art Rauschzustand zu versetzen.“
Hält die Person die Infiltration über genügend lange Zeit aufrecht, mag das zum veritablen Vollrausch führen. Und erst dann, wenn sie das Gefühl hat, den Zustand der Lust nicht weiter mehr steigern – oder ihn auf Gefahr der Überreizung nicht länger mehr aushalten – zu können, – erst dann wird sie sich durch einen letzten manuellen Druck und Ruck zum ultimativen Orgasmus bringen. Erst dann aber auch, wenn sie den optimalen Zeitpunkt und Reizpunkt traf, wird sie das Gefühl haben, das Non-plus-ultra ihrer Lust realisiert zu haben, und erlöst und ernüchtert in ihren Normalzustand zurückfinden.
Gerade dieser Paroxysmus ihrer ipsistisch individuellen und individuell möglichen Lust, so scheint es, bleibt ihr dann als ihr hedonistisches Ideal und Paradigma im Gedächtnis. Das ist das Engramm ihres optimalen Lusterlebens, das sie dann aber auch jedes Mal aufs Neue wieder wird erfahren wollen. (Übrigens scheint es, wenn dieser Einschub erlaubt ist, gerade diese Ekstase, deren die Person sich beim Anblick eines attraktiven Partners des anderen Geschlechts erinnert und die sie unwillkürlich und instinktiv vom Sex mit ihm erwartet – so dass es gar nicht die reale zwischengeschlechtliche Erfahrung ist, die ihren intimsten Kitzel verursacht, als vielmehr ihr ipsistisches Ideal, das mit dem Partner fleischlich gar nicht erreichbar wäre, so dass der Partner das Versprechen der (ipsistisch erfahrenen) Lust, das er weckt, dann beim (realen) Sex gar nicht halten kann.
Wird der digitale Sex nun bei manchem Zeitgenossen zur chronischen Gewohnheit – und wird der Konsument gleichwie der Gewohnheitssäufer förmlich zum Sex-Junkie –, dann scheint es auch nicht mehr völlig abwegig, von einer Suchterscheinung zu reden.
Dafür spricht zumal der Zwangscharakter des Verhaltens, das zur obsessiven Gewohnheit wird. Der Sex im Netz lädt den Junkie geradezu ständig dazu ein. Das Suchtmitteldepot dafür hat er im eigenen Blut. „Denn jeder trägt“, so Kleist in 'Der zerbrochne Krug', „den leid'gen Stein zum Anstoß in sich selbst.“
Kaum vorstellbar beispielsweise, was geschähe, würden der Alkohol und die harten Drogen plötzlich an jeder Straßenecke so frei verfügbar wie der virtuelle Sex im Netz: Geriete die Zahl der Trunk- und Drogensüchtigen nicht völlig außer Rand und Band? Würde das nicht, vergleichbar dem China zur Zeit der von den Europäern importierten Opiumschwemme, nicht einen ganzen Staat zugrunde richten? Warum also sollte es mit der ,Sexsucht' anders sein?
Ist das vielleicht mit ein Grund, warum der Porno früher gesetzlich verpönt war: aus demselben Grund, warum heute Kokain und Cristal Met verboten sind? Daher vielleicht auch der Jugendschutz für die Minderjährigen: damit diese nicht allzu früh der Sexualsucht verfallen.
Aber was ist eigentlich das Kriterium für die Sexsucht? Wie zwischen einem überstarken libidinösen Temperament und einem namentlich süchtigen unterscheiden? Wo wäre die Grenze zwischen natürlicher Heißblütigkeit und krankhafter Sucht? Wie gesagt: „A nymphomaniac is a woman who has more sex than you do.“ Denn was Keynes für die Wirtschaftswissenschaft, das ist Kinsey für die Sexualwissenschaft. Die Frage stellt sich, ob derlei nicht einfach nur Menschliches, Allzumenschliches ist? Und das allzu Menschliche deshalb schon pathologisch?
Als süchtig gelten infolgedessen nur solche Personen, deren sexuelle Phantasien und Verhaltensweisen so beherrschend werden, dass sie für sonstige, nichtsexuelle Aktivitäten und Pflichten kaum mehr den Auftrieb haben, so dass Familie, Beruf und andere soziale Kontakte darunter leiden. Als maßgeblich gilt der mit übersteigertem Sex verbundene Leidensdruck; und auch, wenn dem Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand die Lebensenergie geopfert wird und es die freie Entfaltung und sozialen Chancen der Persönlichkeit schwächt … –
Nun aber, wie wenn mit dem übersteigerten Sex überhaupt kein Leidensdruck einhergeht? Und wenn doch, kommt dann der ,Leidensdruck' überhaupt vom Sex? Wäre er ohne den Sex nicht vielleicht noch größer? Bekanntlich hat schon Freud sich geweigert, große Künstler von ihren Neurosen zu ,heilen'. Wie hätte er es da mit den namentlich Sexualsüchtigen gehalten, zumal das manchmal nicht ganz voneinander zu trennen ist?
Wie denn auch die sogenannten ,Sexkliniken' von den eklatant Betroffenen zumeist erst dann, und auch dann meist nur alibihalber, aufgesucht werden, wenn es ihnen von außen her familiär oder zivilgesellschaftlich aufgedrängt wird!
Dennoch scheinen Drogensucht und ,Sexsucht' nicht ohneweiters vergleichbar. Es gibt einen signifikanten Unterschied: Der Alkohol und die Drogen kommen exogen von außen her in den Organismus und können ihm in unbeschränkter Menge, bis zum Exzess, bis zum Tod durch Überdosis zugeführt werden; die sexuelle Lust dagegen stammt endogen von innen heraus und ist ebenso schnell, wie sie wirkt, auch wieder verflogen. Wie in Shakespeares 129stem Sonett nach Stefan Georges Übersetzung:
... Enjoy'd no sooner but despised straight;
Past reason hunted, and no soonere had,
Past reason hated, as a swallow'd bait … –
Genossen wo gleich drauf verachtung trifft
Sinnlos erjagt und gleich nach dem empfang
Sinnlos gehasst wie ein verschlucktes gift … –
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