Blog 121
Erlaubt seien aber Zweifel, ob Nabokovs Roman dem heutigen unbestechlich realistischen Blick standhält, auch wenn es nur um Nuancen geht.
Fraglich ist nämlich, ob Humbert Humbert im Roman mit Lolita auf dem Sofa wirklich zum Orgasmus kommt, wenn sein geknebelter, berstender Unhold in der Hose so verklemmt und eingezwängt bleibt wie beschrieben.
Dass er mit Lo's schlank-verfänglichen Schenkeln auf seinem Schoß in einen Zustand der Erregung kommt, der an Raserei grenzt – das ja.
Dass er mit seinem gespannten, gequälten, heimlich arbeitenden Schoß auf eine Seinsebene gerät, wo nichts gilt außer dem Lustgebräu, das in seinem Körper gärt – das ja.
Dass die tiefe, heiße Süße gesichert und auf gutem Wege zur äußersten Verzückung ist und er sich zurückhalten darf, um die Glut zu verlängern – unsretwegen auch das.
Dass er auf solche Weise aber zur letzten Verzückung und längsten Ekstase kommt, die Mensch oder Monstrum je erfahren haben – das muss zweifelhaft bleiben!
Das Fleisch lässt sich nicht betrügen. Das Fleisch begnügt sich nicht mit der bloßen Erregung. Um zur äußersten Klimax zu kommen, bedarf es einer letzten entscheidenden Stimulation des geknebelten Unholds. Dazu müsste er aber erst aus der knechtischen Gefangenschaft befreit – ihm sozusagen die Fesseln genommen – und mit einer letzten gepressten Friktion forciert werden können. Andernfalls kommt es auch in der höchsten Erregung nicht zur finalen Verzückung, allenfalls zu einer Art Stockung, einer unzuträglichen Verhaltung und Obstipation.
Andererseits können wir natürlich auch nicht absolut sicher sein, ob es nicht tatsächlich solche libidinösen Subjekte gibt – „tiefmelancholische Geschöpfe, denen das heiße Gift in den Lenden kocht und eine Wollustflamme unablässig in der elastischen Wirbelsäule lodert“ wie im Roman –, die selbst unter solch behinderten Umständen schon abgehen wie ein Kosmonaut in seiner Rakete, – wenn aber ja, dann gehört Humbert Humbert mit Sicherheit dazu. Nehmen wir es also nicht so penibel genau und halten dem Autor etwas poetic licence zugute! Ob Wladimir dergleichen im wirklichen Leben vergönnt war, muss dahingestellt bleiben; in seiner Phantasie war er ihm sicherlich oft genug vergönnt.
Man könnte indes den Eindruck vertreten, Nabokovs ganzer Roman sei gar nicht realistisch, sondern überhaupt nur gleichnishaft und quasi modellhaft-metaphorisch zu lesen – wonach sich alle betuliche moralische Kritik von damals bis heute sowieso in blauen Dunst auflöste. Erscheint nicht der ganze Roman wie eine einzige große parthenophile Wunschvorstellung – um nicht zu sagen, literarisch ausgelebte Masturbationsphantasie?
Ein untrügliches Zeichen dafür ist eben der Hinweis auf jene „Seinsebene, wo nichts galt außer dem Lustgebräu, das in meinem Körper gärte. Was als genussreiche Dehnung meiner innersten Wurzeln begonnen hatte, wurde zum glühenden Prickeln, das sich jetzt in einem Zustand absoluter Sicherheit, Zuversicht, Zuverlässigkeit befand, der nirgends sonst im bewussten Leben zu finden ist“, – ein Zustand, wie er beim realen zwischengeschlechtlichen Sex kaum, nicht einmal mit dem reizendsten Nympchchen, und – überhaupt nur in der üppigsten Selbstbefriedigung vorkommen dürfte? Der Autor könnte diese Erfahrungen wohl kaum so trefflich beschreiben, wenn er sie nicht am eigenen Leib gemacht hätte.
Nicht in Wirklichkeit beim intersexuellen Verkehr aber hat er sie gemacht, sondern – in seiner erotischen Phantasie. Die parthenophile Fabel scheint eher die Utopie einer sexuellen Parallel- und Gegenwelt: die Sphäre der männlichen Selbstbefriedigung im Gegensatz zum Geschlechtsverkehr in bürgerlich wohlanständigen Betten. Der erotomane Autor, ließe sich sagen, malt sich alles nur aus, um es nicht selbst in Wirklichkeit umsetzen zu müssen. Jedwede moralische Kritik oder Zensur wäre dann müßig – reines Schattenboxen, ein Sturm im Wasserglas.
Erst mit der Zeit aber lernt der Puber und wird ihm bewusst, dass das zwei völlig getrennte und disparate Welten sind: der reale zwischenmenschliche Sex, in dem der körperliche Kontakt alles ist und die erotische Phantasie nichts, und andererseits die Sphäre der geschlechtlichen Selbstbefriedigung – jener dunklen süßen Onanie des Lyrikers Benn –, in der die erotische Phantasie alles ist und der fleischliche Kontakt nichts; – und nachgerade zu seinem Lebensproblem wird es werden – oder ist es bereits –, die beiden heterogenen Welten miteinander zu versöhnen oder zumindest doch auf ein gemeinsames Quivive zu bringen.
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