Blog 99
Da die ,sexuelle' klitorale Lust der Frau ganz unabhängig von ihrer vaginalen Fortpflanzungsfunktion ist und sie empfangen und gebären kann, ohne irgend einen sexuellen Kitzel, Wollust, Orgasmus gar zu empfinden, – so wie sie beliebig klitorale Orgasmen haben kann, ohne dass auf irgendeine Weise ihre Vagina daran mit beteiligt sein müsste, – könnte man auf die seltsamsten Vermutungen und Hypothesen kommen. Ja, genau betrachtet scheinen diese Vermutungen und Hypothesen sogar ganz unausweichlich.
Erinnern wir uns jener früheren Überlegung: dass, wenn es keinen weiblichen vaginalen, sondern nur klitoridalen Orgasmus gibt, der im Dienst der Fortpflanzung und Erhaltung der Art stehende Koitus durch den männlichen Penis aber so gut wie ausschließlich vaginal stattfindet – und also die Frau dadurch zu gar keinem Orgasmus kommt –, dass dann die ganze Konstruktion nachgerade als ein Manko in der Natur und als eine biologisch-evolutionäre Fehlkonstruktion erschien!
Nun aber, vielleicht war es ja gar kein Fehler in der Evolution. Vielleicht haben wir nur zu kurz gegriffen, und die Natur verfolgte in der Evolution der weiblichen – zumal klitoridalen – Lust überhaupt einen ganz anderen Zweck als die wechselseitig simultane Lust und Klimax der Geschlechter?
Vielleicht ist es ein grundsätzlicher logischer Trugschluss und ,klarer Fall von denkste' – ein ,naturalistischer Fehlschluss' sui generis im Bereich menschlicher Sinnlichkeit und Libido! –, zu glauben, die Natur hätte die Geschlechtslust primär um der Lust am Geschlechtsverkehr und dem Akt der Fortpflanzung willen entwickelt!?
Vielleicht bestand das Telos in der ,Evolution des Paradieses' (wie ich mal den Titel eines Buches bei Books on Demand nannte!) gar nicht darin, die Kulmination der Lust akkurat in die Vereinigung der beiden Geschlechter zu platzieren, – dergestalt, dass die geschlechtliche Lust primär gar nicht für die Fortpflanzung und Erhaltung der Art gedacht ist!?
Nicht primär für die Fortpflanzung und Erhaltung der Art gedacht? Wofür aber dann?
Das klingt paradox, und ist doch leicht einzusehen: Die Geschlechtslust könnte ursprünglich, ganz unabhängig von der Fortpflanzung und Erhaltung unserer menschlichen Art, auch als eine eigenständige und autonome Quelle biologisch-organismischer Lebenslust schlechthin entstanden sein.
Anders gesagt, sie könnte geradeso gut primär darin bestanden haben, dem individuellen biologischen Organismus selbst, ganz losgelöst und unabhängig von jedweder Fortpflanzungsfunktion, einen höchsteigenen und autonomen Zugang zu einer Quelle der Lust zu verschaffen, ohne die ja wohl auch kein Lebewesen überhaupt existieren und auf der Welt sein möchte!
In andern Worten, die biologische Evolution hätte die sexuelle Lust ursprünglich gar nicht um der Fortpflanzung und Erhaltung der Arten willen hervorgebracht, sondern zuerst und vor allem deswegen, um die lebenden Organismen nicht völlig als trüben Gast lust-los durch ein steriles Dasein trotten zu lassen und sie stattdessen ursprünglich mit einer vitalen organischen Möglichkeit zur Lust – griechisch ἡδονή hēdonḗ, deutsch ‚Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde‘– auszustatten und ihnen als Quelle individueller Befriedigung zu dienen, – um sie existenziell überhaupt erst einmal zu motivieren, zu belohnen und nachhaltig bei der Stange zu halten. Nicht umsonst werden die gehirnlichen Areale der Lust neurobiologisch ja auch als das ,Belohnungssystem' bezeichnet, was schon terminologisch in eine viel allgemeinere Richtung als den zwischengeschlechtlichen Sex verweist: nämlich darauf, dass sie überhaupt für ihren Lebenskampf entschädigt, rekompensiert und belohnt werden sollen. Damit instinktiv und spontan aber auch schon in die Richtung individueller sinnlich-hedonistischer Selbstbefriedigung!
Nicht wäre die sexuelle Selbstbefriedigung dann eine nachrangig sekundäre Begleiterscheinung und Nebenwirkung der primären organismischen Fortpflanzungs- und Proliferationsfunktion, – sondern die organismische Fortpflanzungsfunktion wäre umgekehrt ihrerseits eine sekundäre Begleiterscheinung und Nebenwirkung der primären Möglichkeit zur hedonistischen Selbstbefriedigung! (,Ipsistische Selbstbefriedigung' – von lat. ipse, ,selbst' – ist sozusagen ein Pleonasmus, da Ipsismus gleichbedeutend mit Selbstbefriedigung, Masturbation, Onanie, oder der Neigung dazu ist. So ging der Berliner Philosoph Hartwig Schmidt schon einmal so weit, zu sagen: Die moderne Identität ist ipsistisch. Und wie wir sehen, vielleicht nicht erst die moderne; die moderne aber, in Anbetracht des Onlinesex, ipsistischer als je zuvor.)
Konsequent so weitergedacht, wäre das A und das O, das Alpha und das Omega der biologisch-organischen Lust – des freudianisch so genannten ,Lustprinzips' – ursprünglich gar nicht die sexuelle Vereinigung der Geschlechter, – sondern zuerst und vor allem eine Quelle und Ressource für die Lustgewinnung hier und jetzt des individuellen Lebewesens an sich selbst!
Jedes Lebewesen trüge so sein eigenes Genussmitteldepot in sich, das bei Bedarf jederzeit spontan in Anspruch genommen werden kann und sich je nach Bedarf willentlich leicht anzapfen lässt. Die Lebewesen wären von Natur aus zur Onanie veranlagt, prädisponiert, prädestiniert!
Die ursprüngliche Erotik wäre demnach die narzisstische und ipsistische, die Autoerotik?
Comments