Blog 36
In meinem Roman ,Des Lebens und der Liebe Wellen' (Kindle-Taschenbuch) beschreibe ich den Ehebruch im Ehebett am Beispiel des nach Paris exilierten Dichters Henri und seiner Frau Mathilde, ausgehend von seiner spontanen Bekanntschaft mit der jungen Cancan-Tänzerin Frisette. Wie folgt.
Der Cancan ist ein provokativer, sexuell anregender Tanz, der zuerst in den Pariser Ballsälen um 1830 herum auftaucht. Der Tanzstil erregt Skandal aufgrund des hohen Werfens der Beine und diverser anderer Bewegungen von Armen und Beinen. In Deutschland wäre das zur damaligen Zeit unvorstellbar. Man ist tugendhaft in Deutschland, schreibt Henri, weil man es so lange war und jetzt es nicht der Mühe wert hält, lasterhaft zu werden, ungefähr wie Damen, die bis zum vierzigsten Jahr tugendhaft waren – daher große Toleranz, laxe Prinzipien, bei strengen Sitten.
Damals „trugen die Frauen unter dem Unterrock”, plaudert Wiki aus der Schule, „noch geschlitzte Höschen. In der Folge wurde der Cancan unter dem Titel ,French cancan' zu einer sehr entschärften Touristenattraktion, den die Frauen in der Reihe, dem Publikum zugewandt, mit geschlossenen Höschen tanzen.”
Gehen wir daher einmal davon aus, dass zu Henris Tagen die Pariser Grisettes noch mit geschlitzten Höschen tanzten. Das Goldene Zeitalter des Cancan!
Die Cancan- und Chahut-Tänze sind zurzeit eine Sensation. Der Cancan gilt als wild, anstößig und obszön. Henri erlebt nicht mehr, wie später in den 1880er Jahren La Goulue und Grille d'Egout ihre Karriere im Élysée-Montmartre auf dem Boulevard Rochechouart beginnen, um zusammen mit dem Kapellmeister Louis Dufour dem Cancan einen neuen Aufschwung zu geben. Die Goulue begeistert die Zuschauer mit ihren besonderen Tanzeinfällen. Sie nimmt in ihren schwarzen Seidenstrümpfen den schwarzen Atlasfuß in die Hand und lässt die sechzig Meter Spitzen ihrer Jupons hin- und herkreisen; sie zeigt ihr Höschen, dem drollig ein Herz aufgestickt ist, das sich kurios über ihr kleines Hinterteil spannt, wenn sie ihre unehrerbietigen Reverenzen macht; rosa schimmert die Rosette des Strumpfbandes, und bis auf die feinen Knöchel sinkt ein köstlicher Spitzenschaum und lässt ihre herrlichen gelenkigen, geistvollen und aufreizenden Beine erscheinen und verschwinden. Mit einem Schwung des Fußes nimmt die Tänzerin ihrem Kavalier den Hut ab und setzt sich in die Grätsche, mit starraufrechtem Oberkörper, die schmale Taille in himmelblauer Seidenbluse.
Tänzerinnen, die mit ihrer Lendenpoesie Effekt machen, befindet Henri:
„Das Wesen des französischen Balletts ist keusch, aber die Augen der Tänzerinnen machen zu den sittsamsten Pas einen sehr lasterhaften Kommentar, und ihr liederliches Lächeln ist in beständigem Widerspruch mit ihren Füßen. Hier höre ich die Frage: was ist der Cancan? Heiliger Himmel, ich soll für die Allgemeine Zeitung eine Definition des Cancan geben! Wohlan: der Cancan ist ein Tanz, der nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird, sondern nur auf gemeinen Tanzböden, wo derjenige, der ihn tanzt, oder diejenige, die ihn tanzt, unverzüglich von einem Polizeiagenten ergriffen und zur Tür hinausgeschleppt wird. Ich weiß nicht, ob diese Definition hinlänglich belehrsam, aber es ist auch gar nicht nötig, dass man in Deutschland ganz genau erfahre, was der französische Cancan ist. Soviel wird schon aus jener Definition zu merken sein, dass die vom seligen Vestris angepriesene Tugend hier kein notwendiges Requisit ist, und dass das französische Volk sogar beim Tanzen von der Polizei inkommodiert wird.
Ja, dieses Letztere ist ein sehr sonderbarer Übelstand, und jeder denkende Fremde muss sich darüber wundern, dass in den öffentlichen Tanzsälen bei jeder Quadrille mehrere Polizeiagenten oder Kommunalgardisten stehen, die mit finster katonischer, katatonischer Miene die tanzende Moralität bewachen. Es ist kaum begreiflich, wie das Volk unter solch schmählicher Kontrolle seine lachende Heiterkeit und Tanzlust behält. Dieser gallische Leichtsinn aber macht eben seine vergnügtesten Sprünge, wenn er in der Zwangsjacke steckt, und obgleich das strenge Polizeiauge es verhütet, dass der Cancan in seiner zynischen Bestimmtheit” – wohl eben mit den geschlitzten Höschen – „getanzt wird, so wissen doch die Tänzer durch allerlei ironische Entrechats und übertreibende Anstandsgesten ihre verpönten Gedanken zu offenbaren, und die Verschleierung erscheint alsdann noch unzüchtiger als die Nacktheit selbst. Meiner Ansicht nach ist es für die Sittlichkeit von keinem großen Nutzen, dass die Regierung mit so vielem Waffengepränge bei dem Tanze des Volks interveniert; das Verbotene reizt eben am süßesten, und die raffinierte, nicht selten geistreiche Umgehung der Zensur wirkt hier noch verderblicher als erlaubte Brutalität. Diese Bewachung der Volkslust charakterisiert übrigens den hiesigen Zustand der Dinge und zeigt, wie weit es die Franzosen in der Freiheit gebracht haben.”
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