Die eskalierende Lust – 2?
- freudholdriesenhar
- 10. Sept. 2023
- 2 Min. Lesezeit
Blog 54
So ist die geschlechtliche Lust gleichwie der Köder an der Angel mit Widerhaken, den ein Fisch geschluckt hat und nicht mehr los wird, bis er sich ihn gewaltsam aus dem Gaumen reißt. Dieser gewaltsame Riss ist der Orgasmus. Das ist der Augenblick, da sämtliche beteiligten Aktionspotenziale den Schwellenwert überschreiten, die Neuronen feuern und das Feld sich in einem umfassenden Blitz entlädt.
Das ist der Augenblick, da alle Dämme brechen und die Schleusen der Drüsen sich öffnen, die Vesikel mit der Membran verschmelzen, ihren Inhalt durch Exozytose in den Extrazellulärraum releasen und das Subjekt alle Süßigkeit der Endorphine und endogenen Drogen erfährt.
Das ist der Augenblick, da, während die Frau in klitoridaler Verzückung vergeht, beim Mann der elysische Blitz die Gonaden trifft, die unwillkürliche Reflexkette triggert und in drei bis zehn reflektorischen Kontraktionen der beteiligten Muskeln den schubweisen Ausstoß des Spermas bewirkt …
Das ist der Punkt, da in der Passion des jungen Hanno für die Musik in ,Buddenbrooks' Thomas Mann das Orgasmuserleben eines leidenschaftlichen Liebhabers in all seinen Facetten schildert: „Und es kam, es war nicht mehr aufzuhalten, die Krämpfe der Sehnsucht hätten nicht mehr verlängert werden können, es kam, gleichwie wenn ein Vorhang zerrisse, Tore aufsprängen, Dornenhecken sich erschlössen, Flammenmauern in sich zusammensänken … Die Lösung, die Auflösung, die Erfüllung, die vollkommene Befriedigung brach herein, und mit entzücktem Aufjauchzen entwirrte sich alles zu einem Wohlklang, der in süßem und sehnsüchtigem Ritardando sogleich in einen anderen hinüber sank … es war das Motiv, das erste Motiv, was erklang! Und was nun begann, war ein Fest, ein Triumph, eine zügellose Orgie eben dieser Figur, die in allen Klangschattierungen prahlte, sich durch alle Oktaven ergoss, aufweinend im Tremolando verzitterte, sang, jubelte, schluchzte, angetan mit allem brausenden, klingenden, perlenden, schäumenden Prunk der orchestralen Ausstattung sieghaft daherkam … Es lag etwas Brutales und Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses, etwas wie Glaube und Selbstaufgabe in dem fanatischen Kultus dieses Nichts, dieses Stücks Melodie, dieser kurzen, kindischen, harmonischen Erfindung von anderthalb Takten … etwas Lasterhaftes in der Maßlosigkeit und Unersättlichkeit, mit der sie genossen und ausgebeutet wurde, und etwas zynisch Verzweifeltes, etwas wie Wille zu Wonne und Untergang in der Gier, mit der die letzte Süßigkeit aus ihr gesogen wurde, bis zur Erschöpfung, bis zum Ekel und Überdruss, bis endlich, endlich in Ermattung nach allen Ausschweifungen ein langes, leises Arpeggio in Moll hineinrieselte, um einen Ton emporstieg, sich in Dur auflöste und mit einem wehmütigen Zögern erstarb“ …
Das ist der Punkt in Joyces ,Ulysses', da Leopold Bloom am Sandymount Strand beim Anblick von Gerty MacDowells Allerintimstem einer abgeht: „Und dann fliegt eine Rakete hoch, und ein heller Knall und O! – dann birst die Leuchtkugelröhre und alles seufzt O! und jeder schreit O! O! voller Begeisterung, und aus ihr heraus bricht ein Strom goldenen, haarfeinen Goldregens und sie teilen sich und ah! jetzt sind es lauter grünliche, tauähnliche Sterne, die herabfallen mit goldenen O! so herrlich! A! so weich, süß, weich!“ –
Und das ist der Punkt, wo in García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit Rebeca Buendía noch gerade Gott für ihre Geburt danken konnte, „bevor sie in dem unbegreiflichen Genuss jenes unerträglichen Schmerzes das Bewusstsein verlor, während sie in dem dampfenden Sumpf der Hängematte plantschte, welche die Explosion ihres Blutes wie Löschpapier verschluckte ...“
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